Grenzstreit: Mahnbrief aus Brüssel - doch keine Einsicht in Berlin

23.02.2021 15:48

Der Ton wird schärfer. Die EU-Kommission fordert im Grenzstreit mit
Deutschland innerhalb von zehn Werktagen Erklärungen - und sie
verlangt mehr Ausnahmen. An der Bundesregierung perlt das jedoch ab.

Brüssel/Berlin (dpa) - Der Streit zwischen Deutschland und der
EU-Kommission um die verschärften Einreiseregeln spitzt sich zu.
Während die Brüsseler Behörde in einem Beschwerdebrief Änderungen
fordert, will Deutschland die Grenzkontrollen an den Übergängen zu
Tschechien und dem österreichischen Bundesland Tirol bis zum 3. März
verlängern. Zugleich wies man die Kritik aus Brüssel entschieden
zurück.

Deutschland hatte Tschechien, die Slowakei und weite Teile Tirols
Mitte Februar zu sogenannten Virusvariantengebieten erklärt. Von dort
dürfen aktuell nur noch Deutsche sowie Ausländer mit Wohnsitz und
Aufenthaltserlaubnis in Deutschland einreisen. Ausnahmen gibt es
unter anderem für Lastwagenfahrer und Grenzgänger mit
systemrelevanten Berufen. Sie müssen einen negativen Corona-Test
vorlegen, der nicht älter als 48 Stunden ist. Die Regeln waren
zunächst für zehn Tage eingeführt worden.

Die EU-Kommission sieht aufgrund diverser Alleingänge jedoch die
Bewegungsfreiheit und damit den Warenfluss im Schengen-Raum
gefährdet. Deshalb schickte sie am Montag Beschwerdebriefe an
Deutschland sowie Belgien, Dänemark, Schweden, Finnland und Ungarn.
Mehrere Vorgaben seien unverhältnismäßig oder unbegründet, heißt
es
in dem Schreiben an den deutschen EU-Botschafter in Brüssel, Michael
Clauß, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. «Wir glauben, dass
das nachvollziehbare Ziel Deutschlands - der Schutz der öffentlichen
Gesundheit in einer Pandemie - durch weniger restriktive Maßnahmen
erreicht werden könnte.»

Die EU-Kommission erwartet nun innerhalb von zehn Werktagen eine
Antwort. Theoretisch könnte sie ein rechtliches Verfahren gegen
Deutschland einleiten, dies gilt wegen der andauernden Pandemie aber
als unwahrscheinlich.

Die EU-Kommission hatte sich in den vergangenen Tagen mehrfach
kritisch über die deutschen Maßnahmen geäußert, was
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) stets brüsk zurückwies.
Grundlage der Bedenken aus Brüssel ist, dass die EU-Staaten sich vor
einigen Wochen auf gemeinsame Empfehlungen für das Reisen innerhalb
der EU geeinigt hatten. Diese basieren auf einer Europakarte, auf der
Regionen anhand gemeinsamer Kriterien farblich markiert werden. Daran
sollten sich nach Ansicht der EU-Kommission alle halten. Auch die
Europaminister der EU-Staaten wollten am Dienstag über die
Reiseregeln beraten.

EU-Staatsminister Michael Roth wies die Kritik der EU-Kommission am
Dienstag zurück. Was man getan habe, stehe im Einklang mit dem
Schengener Übereinkommen, sagte der SPD-Politiker. Die Entscheidung
sei der Bundesregierung sehr schwer gefallen. «Aber wir stehen in der
Verpflichtung, gegenüber einer Virusmutation so aufzutreten, dass der
Schutz unserer Bürgerinnen und Bürger oberste Priorität genießt.»
Im
Schengen-Raum, dem 26 europäische Länder angehören, gibt es
eigentlich keine stationären Grenzkontrollen. In besonderen
Gefahrenlagen sind allerdings Ausnahmen möglich.

Seehofer sagte am Dienstag: «Wir haben keinen einzigen Grenzübergang
geschlossen.» Das sei anders als noch bei der letzten Runde
coronabedingter Kontrollen. Tschechen, Österreicher, Slowaken und
Italiener hätten ihrerseits Teststationen eingerichtet, um größere
Rückstaus zu verhindern, «so dass das ein schönes Zusammenspiel
Europas ist».

Der Minister betonte, es gehe nur um Mutationsgebiete. «Vielleicht
sind wir mal noch froh, dass wir das gemacht haben.» Man könne nicht
den Menschen in Deutschland große Einschränkungen auferlegen und dann
«mutierte Viren ungebremst» ins Land lassen. Mit Blick auf die
angespannte Corona-Lage im französischen Département Moselle berät
eine Taskforce, die Seehofer zufolge am Mittwoch dem Kabinett
berichten soll.

Die EU-Kommission führt in ihrem vierseitigen Schreiben detailliert
auf, welche deutschen Maßnahmen sie für unangemessen hält. Dabei
stellt sie auch die Einordnung Tschechiens und der Slowakei als
Virusvariantengebiete infrage: In beiden Ländern seien nach Angaben
der EU-Gesundheitsbehörde ECDC bislang nur wenige Fälle der
britischen Virusvariante entdeckt worden.

Auch mit den Ausnahmen ist die EU-Kommission unzufrieden. Unter
anderem gebe es für grenzüberschreitend lebende Familien keine
Ausnahme. Ebenso kritisiert die Behörde die Vorgaben für Lkw-Fahrer.
Diese müssten auch dann einen höchstens 48 Stunden alten Corona-Test
vorlegen, wenn sie die Variantengebiete nur durchquert hätten. Die
Empfehlungen der EU-Staaten sähen hingegen vor, dass Verkehrsarbeiter
in der Regel gar keinen Test machen müssen - und wenn doch, solle es
ein Schnelltest sein. Die 48-Stunden-Regel ermögliche es zudem, sich
in Polen, Italien oder Slowenien testen zu lassen, durch ein
Virusvariantengebiet zu fahren und dann nach Deutschland einzureisen.

EU-Kommissionsvize Margaritis Schinas spielte den Konflikt am
Dienstag herunter. «Wir sehen Bewegung bei der deutschen Regierung,
um zu einem Konsens zu kommen», sagte er der dpa. «Ich bin sicher,
dass eine Art gemeinsames Verständnis entstehen wird.»