Schüsse an Europas Grenze? - Ein Syrer kämpft um Gerechtigkeit Von Mirjam Schmitt, dpa

28.02.2021 11:00

Ende Februar 2020 erklärte die Türkei die Grenze nach Griechenland
für geöffnet. Der Syrer Muhammad Hantou versuchte, wie Tausende
andere Migranten in die EU zu gelangen - und wurde angeschossen. Bis
heute leidet er an den Folgen und kämpft für Gerechtigkeit.

Istanbul (dpa) - Hätte das Geschoss den Syrer Muhammad Hantou etwas
höher oder niedriger am Kopf getroffen, wäre er heute nicht mehr am
Leben. So habe es ihm ein Arzt vor einem Jahr in der
griechisch-türkischen Grenzstadt Edirne gesagt, erzählt Hantou (21)
in Istanbul. Graue Narben weisen auf die Verletzung am Ohr hin, diese
beeinträchtigt ihn noch heute. Manchmal werde ihm schwindlig, sagt
Hantou. Er könne sich nicht lange konzentrieren.

Hantou war wie Tausende andere Migranten Anfang März 2020 an der
griechisch-türkischen Landgrenze. Die Menschen, darunter vor allem
Afghanen, aber auch Syrer, Pakistaner und Iraker, hofften, in die EU
zu gelangen, nachdem die Türkei die Grenze zu Griechenland für
geöffnet erklärt hatte. Athen setzte das Asylrecht zeitweise aus.
Griechische Sicherheitskräfte drängten die Migranten mit Tränengas,
Blendgranaten und Schlagstöcken zurück. Menschen steckten am
Grenzfluss Evros zwischen Griechenland und der Türkei fest.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bezeichnete Griechenland
damals als «Schild» Europas.

Nach Erkenntnissen von internationalen Rechercheteams wurde mit hoher
Wahrscheinlichkeit auch scharfe Munition eingesetzt. Am Ende waren
mindestens zwei Migranten tot: Der Syrer Muhammad al-Arab und der
Pakistaner Muhammad Gulzar. Eine Syrerin gilt nach Angaben von
Amnesty International als vermisst. Die Türkei beschuldigt
Griechenland, für den Tod von drei Migranten verantwortlich zu sein.
Athen weist die Vorwürfe zurück.

Was genau damals passiert ist, bleibt bis heute ungeklärt. Der
Grünen- Europaabgeordnete Erik Marquardt sagt, es sei «sehr
schockierend», dass die Vorfälle bislang folgenlos geblieben seien.
«Da hätte ich erwartet, dass es einen größeren Aufschrei gibt.» D
ie
Ereignisse von damals beeinflussen bis heute die EU
Flüchtlingspolitik - und das Leben von Muhammad Hantou.

Es war Hantous dritter Anlauf, um nach Europa zu gelangen. Zwei Mal
habe er es mit dem Boot versucht und sei gescheitert. Hantou trägt
Kapuzenpulli und Jeans, er wirkt sportlich und spricht mit leiser,
ruhiger Stimme. Er habe in die Niederlande gewollt, weil seine
damalige Freundin dort lebe und sie sich verloben wollten, sagt er.
Vor dem Krieg seien sie in Damaskus Nachbarn gewesen. Als Hantou
hörte, dass die Grenzen angeblich offen seien, habe er sich in
Istanbul in den Bus gesetzt.

Die Zustände an der Grenze beschreibt Hantou als chaotisch. Tagelang
hätten die griechischen Grenzbeamten Tränengas gegen sie eingesetzt.
Migranten wiederum hätten Steine geworfen, manche Löcher in den Zaun
geschnitten. Auch er habe am 4. März auf die andere Seite gewollt.
«In dem Moment, als ich einen Fuß in das Loch gesetzt habe, haben sie
geschossen», sagt er. Die Schüsse seien von der griechischen Seite
gekommen. Er ging zu Boden, sein rechtes Ohr sei voller Blut gewesen
- zwischenzeitlich habe er das Bewusstsein verloren.

Er könne sich noch daran erinnern, wie andere Migranten ihn in eine
Decke legten und zum Krankenwagen schleppten, erzählt Hantou. «Ich
glaube, dass ich von Schrotkugeln getroffen wurde.» Der medizinische
Bericht, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, spricht von
Kugeln aus einer Schusswaffe, die Hantou verletzt haben. Es gebe ein
Einschussloch am rechten Ohr - eine Kugel stecke noch im rechten
Schädelknochen fest. «Manchmal habe ich Schmerzen in dem Teil, wenn
ich schlafen gehe. Manchmal habe ich Angst, dass ich hinfalle oder es
sich entzündet und alles schlimmer wird.» Eigentlich müsse er
operiert werden.

Sieben Tage lang war Hantou im Krankenhaus. «Dann bin ich zurück nach
Istanbul und seitdem mache ich nicht mehr viel», sagt er. Am Anfang
habe er wegen der Verletzung nicht arbeiten können. Seit drei Monaten
hat er einen Job als Tellerwäscher in einem Restaurant.

In der Türkei leben rund vier Millionen Flüchtlinge, 3,6 Millionen
davon sind Syrer. In einem Abkommen mit der EU hat sich die Türkei
unter anderem dazu verpflichtet, gegen irreguläre Migration nach
Europa vorzugehen. Im Gegenzug erhält das Land etwa Unterstützung für

die Syrer im Land.

Präsident Recep Tayyip Erdogan setzt den Flüchtlingspakt immer wieder
als Druckmittel ein. Auch die Grenzöffnung 2020 war nach Ansicht von
Beobachtern ein Manöver Erdogans, um von der EU mehr Unterstützung zu
erwirken. Griechenland hatte der Türkei Erpressung vorgeworfen und
Berichte über Schüsse auf Migranten umgehend als «Fake News»
zurückgewiesen.

Eine Anwältin aus Griechenland und eine aus der Türkei, kümmern sich

um Hantous Fall. Wegen der Corona-Pandemie habe sie noch keine
Beschwerde für ihn einlegen können, sagt die griechische Anwältin
Nikki Georgiou der dpa. Sie habe Hantou als Zeugen im Fall des
getöteten Pakistaners Gulzar angegeben. Auf Anfrage der dpa erklärten
die griechischen Behörden, die Vorwürfe angeblicher illegaler
Handlungen seien «tendenziös». Solche Handlungen seien nicht
Bestandteil der Praktiken griechischer Behörden. Die Ereignisse im
März 2020 hätten die nationale Sicherheit bedroht.

Der Vorfall habe gezeigt, wie fragil das Konstrukt der
EU-Flüchtlingspolitik sei und die Politik der Abschottung zementiert,
resümiert Lucas Rasche, Migrationsexperte und Wissenschaftler an der
Berliner Denkfabrik Jacques Delors Centre. Griechenland sei nach wie
vor alleine verantwortlich für einen Großteil der Asylanträge. Das
Land werde, wenn es diese nicht bearbeiten könne, prinzipiell vor die
Entscheidung gestellt, die Migranten einfach weiterziehen zu lassen,
oder eben die Grenze abzuriegeln. Mit der Rhetorik der EU sei zudem
ein Bedrohungsszenario heraufbeschworen worden. Die Tatsache, dass
das Asylrecht ausgesetzt wurde, ohne dass dies scharfe Kritik
vonseiten der EU zur Folge hatte, habe «wie eine Art Freifahrtschein
gewirkt, um die Grundrechte an der Grenze weiter zu untergraben.»

Zurzeit steht auch die EU-Agentur Frontex in der Kritik, weil
griechische Grenzbeamte mehrfach Boote mit Migranten illegal zurück
in Richtung Türkei gedrängt haben sollen. Frontex-Beamte sollen dabei
teils in der Nähe gewesen sein und dies nicht verhindert haben.

Hantou sagt, er wolle nur Gerechtigkeit. «Ich weiß, dass derjenige,
der auf mich geschossen hat, nur seine Arbeit gemacht hat, aber er
hat einen Fehler gemacht und muss dafür bestraft werden», sagt er.
Seine Träume seien zerstört, aber er verspüre keinen Ärger gegenü
ber
Europa. Er glaube nach wie vor, dass Europa ein Ort sei, an dem er
seine Rechte erhalte und wo man für ihn einstehe.