Finale im Streit zwischen Manfred Weber und Viktor Orban Von Michel Winde und Gregor Mayer, dpa

01.03.2021 16:20

Showdown in Brüssel: Nach jahrelangem Eiertanz könnte in dieser Woche
eine Entscheidung stehen. Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban
droht, seine Partei aus der EVP-Fraktion im EU-Parlament abzuziehen.
Für manch einen wäre das eine gute Nachricht.

Brüssel/Budapest (dpa) - Viktor Orban bläst zum Gegenangriff. Eine
mögliche Suspendierung seiner Fidesz-Partei aus der
christdemokratischen EVP-Fraktion im Europaparlament? Das will sich
der ungarische Ministerpräsident nicht gefallen lassen. Deshalb droht
er, seine Abgeordneten selbst abzuziehen. An diesem Mittwoch dürfte
sich zeigen, wie ernst der rechtsnationale Ungar es meint. Dann soll
die EVP-Fraktion über eine neue Geschäftsordnung abstimmen, die die
Suspendierung und den Ausschluss ganzer Parteien ermöglichen würde.

Es ist der vorläufige Höhepunkt eines Konflikts, der seit Jahren in
der Europäischen Volkspartei brodelt. In den Hauptrollen, neben Orban
und Fraktionschef Manfred Weber: Kanzlerin Angela Merkel (CDU),
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und seit kurzem der neue
CDU-Vorsitzende Armin Laschet.

Die EVP bildet die größte Fraktion im Europaparlament, stellt etliche
EU-Staats- und Regierungschefs und vereint christdemokratische,
konservative und auch rechtspopulistische Parteien unter einem Dach.
Orban und seine Fidesz-Partei sind jedoch schon lange eine Belastung
für die Parteienfamilie, zu der auch CDU und CSU gehören. Kritiker
werfen ihr vor, Demokratie und Rechtsstaat auszuhöhlen.

In Berlin und Brüssel tat man sich dennoch lange schwer mit klarer
Kante gegen den Haudrauf aus Budapest. Brücken bauen und im Dialog
bleiben - dieses Motto verfolgten vor allem die deutschen
Unionsparteien, ohne die in der EVP nicht viel geht. Dabei spielte
auch die Sorge eine Rolle, Orban könnte sich mit Rechtspopulisten wie
Matteo Salvini aus Italien, Geert Wilders aus den Niederlanden und
Marine Le Pen aus Frankreich zu einer großen Fraktion
zusammenschließen.

Die erste Zuspitzung brachte 2019 eine Plakat-Kampagne der Regierung
in Ungarn, die den damaligen EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker
und US-Milliardär George Soros als Förderer illegaler Migration
diffamierte. Kurz vor der Europawahl rang sich die EVP dazu durch,
den Fidesz zu suspendieren - auf Parteiebene. Orban selbst verkaufte
das als selbstgewählten Schritt. Wenig später kündigte der Ungar dem

Bayern Manfred Weber, der damals Kommissionschef werden wollte, die
Gefolgschaft.

Die Fidesz-Mitgliedschaft in der Partei ruht seitdem, einer
endgültigen Entscheidung kam auch die Corona-Pandemie in die Quere.
In der Fraktion machen die rund ein Dutzend Fidesz-Abgeordneten
bislang jedoch weiter mit - und verteidigen Orbans Politik, die das
Asylrecht einschränkt und die Medienvielfalt beschneidet. Jetzt, zwei
Jahre später, könnte mit dieser Rücksicht Schluss sein.

Auslöser ist eine verbale Entgleisung des Fidesz-Abgeordnete Tamas
Deutsch, der Weber-Aussagen Ende vergangenen Jahres in die Nähe der
Gestapo rückte. Etliche Fraktionskollegen forderten damals Deutschs
Ausschluss - doch Weber konnte sich dazu nicht durchringen. Aus
Fraktionskreisen heißt es, Merkel habe Weber damals darum gebeten,
weil in Ungarn und anderen EU-Staaten noch die Zustimmung für das
Corona-Hilfspaket ausstand. Deutsch verlor nach turbulenter
Fraktionssitzung im Dezember nur einige Rechte in der Fraktion.

Etliche EVP-Abgeordnete sehen in dieser Entscheidung einen kapitalen
Fehler Webers. Er habe es verpasst, in einem konkreten Fall klare
Kante zu zeigen, sagen mehrere im vertraulichen Gespräch. Denn bei
immer mehr EVPlern ist die Geduld mit dem Fidesz zu Ende - auch unter
den sonst eher zurückhaltenden Deutschen. «Ich kann da keine
Verbindungslinie mehr erkennen», sagt Dennnis Radtke (CDU).

Nun soll die Fraktion am Mittwoch über die neue Geschäftsordnung
abstimmen, die infolge der Dezember-Sitzung ausgearbeitet wurde.
Diese soll ermöglichen, ganze Gruppen aus der Fraktion auszuschließen
oder sie zu suspendieren - und so Entscheidungen der Parteienfamilie
nachvollziehen. Ist eine nationale Partei wie der Fidesz aus der EVP
suspendiert, kann die Entscheidung auf Vorschlag des
Fraktionspräsidiums auch im Parlament getroffen werden. Dafür
bräuchte es mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen.

Aus Fraktionskreisen heißt es, sobald die neue Geschäftsordnung
angenommen sei, dürfte innerhalb weniger Tage der Vorschlag zur
Fidesz-Suspendierung folgen. Eine Mehrheit gilt als sicher. Doch
lässt Orban sich das Heft des Handelns nur ungern aus der Hand
nehmen. Am Sonntag schrieb er mit dem Briefkopf der ungarischen
Regierung an Weber: Falls die Fraktion den Änderungen zustimme, werde
seine Partei die Fraktion von sich aus verlassen. Die EVP bliebe zwar
stärkste Kraft im Europaparlament, doch fehlten der Fraktion wichtige
Stimmen. Zudem bekäme eine Gruppe rechts der EVP wohl Zuwachs.

Die EVP-Fraktionsspitze will sich davon nicht einschüchtern lassen.
Die Abstimmung werde so oder so stattfinden, heißt es. Ein Großteil
der Fraktion wäre wohl ohnehin erleichtert, wenn Orban von sich aus
ginge. «Reisende soll man nicht aufhalten», meint Radtke.

Orban selbst hat schon oft damit kokettiert, mit anderen, rechten
Parteien zu kooperieren. So greifbar wie jetzt war der Bruch mit der
EVP allerdings selten. Dabei ist unklar, ob der Fidesz nur die
Fraktion oder auch die Parteienfamilie EVP verlassen würde. Denn die
Kontakte zu all den einflussreichen EVP-Politkern - Merkel,
Kommissionschefin Ursula von der Leyen oder Österreichs Kanzler
Sebastian Kurz - sind von unschätzbarem Wert.

Doch könnte es auch damit bald vorbei sein. EVP-Chef Donald Tusk
dringt schon lange darauf, den Fidesz komplett auszuschließen. Im
Juni dürfte er einen neuen Versuch starten - falls Orban bis dahin
nicht von sich aus gegangen ist. Dann dürfte auch die Position des
neuen CDU-Chefs Laschet ausschlaggebend sein. Der mögliche
Kanzlerkandidat hat sich zu dem Thema bislang zurückhaltend geäußert.