Auf Schmusekurs mit Erdogan? EU-Spitzen treffen türkischen Staatschef Von Ansgar Haase und Mirjam Schmitt, dpa

06.04.2021 17:14

Der politische Kurs der Türkei sorgt in Deutschland und zahlreichen
anderen EU-Staaten für große Besorgnis. Trotzdem reisten
Spitzenvertreter der EU jetzt nach Ankara, um Möglichkeiten einer
stärkeren Zusammenarbeit auszuloten. Verrät die EU ihre Werte?

Brüssel/Ankara (dpa) - Kein langes Händeschütteln, kein kollegiales
Schulterklopfen, keine freundschaftliche Umarmung: Der Abstand, den
die EU-Spitzen am Dienstag beim Fototermin mit dem türkischen
Präsidenten Recep Tayyip Erdogan hielten, war der Corona-Pandemie
angemessen. Aber hätten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der
Leyen und Ratspräsident Charles Michel überhaupt in die Türkei reisen

sollen, um Möglichkeiten für einen Ausbau der Beziehungen zur Türkei

auszuloten? In ein Land, in dem es zuletzt eklatante Rückschritte bei
Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Meinungsfreiheit gab? Aus dem
Deutschen Bundestag und von Menschenrechtlern gibt es auf diese Frage
eine deutliche Antwort. Doch es gibt auch noch eine andere Sicht.

Warum zieht die EU trotz der Entwicklungen in der Türkei einen Ausbau
der Beziehungen in Erwägung?

Letztlich geht es darum, dass die EU eine weitere Eskalation von
Konflikten mit der Türkei abwenden will. Wenn dies nicht gelingen
sollte, fürchtet die EU, dass die Regierung in Ankara die
Zusammenarbeit in der Migrationspolitik einstellt und die mehreren
Millionen Geflüchteten aus Syrien im Land zur Weiterreise in Richtung
EU animiert. Zudem besteht die große Sorge, das der Seegebietsstreit
zwischen den EU-Ländern Griechenland und Zypern sowie der Türkei
wieder eskalieren könnte. Er hatte sich im vergangenen Jahr wegen
türkischer Erdgaserkundungen in umstrittenen Gebieten gefährlich
zugespitzt. In Griechenland befürchteten Menschen sogar einen neuen
Krieg. Zypern ist seit einem griechischen Putsch und einer türkischen
Militärintervention 1974 geteilt. Die Inselrepublik ist EU-Mitglied.

Erfolgen die Annäherungsversuche der EU ohne Gegenleistung?

Um den Konflikt im östlichen Mittelmeer zu entschärfen, hatte die EU
die Türkei im vergangenen Jahr nach dem Motto «Zuckerbrot und
Peitsche» vor eine Wahl gestellt. Sie lautete: Wenn ihr Bereitschaft
zeigt, die Streitigkeiten durch Dialog und im Einklang mit dem
Völkerrecht beizulegen, können wir über eine «positive Agenda» in

Bereichen wie Wirtschaft und Handel reden - wenn nicht, werden neue
Sanktionen erlassen. Die Türkei reagierte, indem sie sich
gesprächsbereit zeigte und die Suche nach Erdgas in umstrittenen
Seegebieten einstellte. Innenpolitisch machte Ankara bislang
allerdings keine Zugeständnisse.

In welchen Bereichen ist eine engere Zusammenarbeit zwischen der EU
und der Türkei denkbar?

Die Regierung in Ankara wünscht sich einen Ausbau der Zollunion mit
der EU und fordert einen Wegfall der Visapflicht für Türken bei
Reisen in die EU sowie mehr EU-Unterstützung für die Versorgung von
Geflüchteten aus Syrien. Die EU zeigt sich nun für Gespräche offen.
So betonte von der Leyen in Ankara, das die EU bereit sei, am Ausbau
der Zollunion zu arbeiten. Zudem kündigte sie an, die Zusammenarbeit
mit der Türkei beim Jugend- und Studentenaustausch sowie in der
Forschung ausbauen zu wollen. Auch am Flüchtlingspakt will die EU
festhalten.

Er sieht unter anderem vor, dass die EU Migranten, die illegal über
die Türkei auf die griechischen Inseln kommen, zurückschicken kann.
Im Gegenzug nehmen EU-Staaten der Türkei Schutzbedürftige aus Syrien
ab und finanzieren Hilfen für in der Türkei lebende Geflüchtete. Am
Ausbau der Zollunion gibt es auch in der EU ein großes
wirtschaftliches Interesse. Er könnte zum Beispiel den Handel im
Agrar- und Dienstleistungsbereich ankurbeln.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es schnell zu konkreten
Ergebnissen kommt?

Weitere EU-Gelder für die Versorgung von Geflüchteten könnten rasch
auf den Weg gebracht werden. Alles andere dürfte dauern - zumal die
Zusagen an eine anhaltende Deeskalation und Dialogbereitschaft
geknüpft sind. Zypern könnte zudem darauf bestehen, dass die Türkei
vor weitreichenden Entscheidungen einer Beilegung des Konflikts um
die Teilung der Insel zustimmen und Zypern offiziell anerkennen muss.

Wie werden die Entwicklungen und der Besuch der EU-Spitzen in
Deutschland gesehen?

Aus der Opposition im Deutschen Bundestag kam vernichtende Kritik.
Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir schrieb, Erdogan wolle
die Opposition ausschalten, steige aus der Istanbul-Konvention zum
Schutz von Frauen aus und bringe Hunderttausende Unschuldige vor
Gericht. Dass sich die EU-Spitzen nun mit Erdogan träfen, «um
Geschenke zu machen», sei «Brüsseler Selbstverzwergung» und «Hohn
für
alle Demokrat*innen der Türkei.»

Auch die Linken-Politikerin Sevim Dagdelen und der außenpolitische
Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Bijan Djir-Sarai, äußerten sich
empört. Dagdelen sagte, der Besuch der EU-Spitzen setze «das
vollkommen falsche Zeichen.» Djir-Sarai forderte, «so lange Erdogan
innen- und außenpolitisch geradezu hemmungslos und im Alleingang
wüte», dürfe die EU ihn nicht mit Zugeständnissen im Rahmen der
Zollunion, Visaerleichterungen oder zusätzlichen Finanzmitteln
belohnen.

Der AfD-Fraktionsvorsitzende, Alexander Gauland, erklärte, die EU
habe sich über das Flüchtlingsabkommen erpressbar gemacht und Erdogan
nutze diesen Umstand nun maximal aus. Zahlungen der EU für die
Versorgung syrischer Geflüchteter sollten gestoppt und besser in
einen wirksamen Ausbau eines EU-weiten Grenzschutzes angelegt werden.

Gibt es nur in Deutschland Kritik?

Nein. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kommentierte:
«Je dreister der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wird, desto

ruhiger wird die Europäische Union.» Diese sollte ihren Ansatz
dringend überprüfen und sichtbare Fortschritte in Sachen
Menschenrechte an die Aufnahme von Gesprächen über eine Zollunion
knüpfen. Auch Mithat Sancar, Co-Chef der zweitgrößten
Oppositionspartei HDP, fordert, die EU müsse mit Erdogan härter ins
Gericht gehen. Der HDP droht ein Verbot.

Was sagen die EU-Spitzen zu der Kritik?

Von der Leyen betonte in Ankara, dass sie und Michel Präsident
Erdogan deutlich gemacht hätten, dass die Achtung der Grundrechte und
der Rechtsstaatlichkeit für die EU von entscheidender Bedeutung
bleibt. Menschenrechtsfragen seien «nicht verhandelbar» und hätten
Priorität. Die Türkei müsse die internationalen Menschenrechtsregeln

und Standards einhalten. Sie verknüpfe eine engere Zusammenarbeit
allerdings nicht direkt mit positiven Entwicklungen in dem Bereich.

Wegen anhaltender Rückschritte bei Grundrechten hatte die EU 2018
beschlossen, mit der Türkei vorerst nicht über den Ausbau der
Zollunion zu reden. Sind die aktuellen Entwicklungen ein Sieg für
Erdogan?

Zumindest ein Etappensieg. Klarheit wird es erst in einigen Monaten
geben, wenn es darum geht, die Ankündigungen auch umzusetzen.
EU-Ratspräsident Michel kündigte an, dass beim EU-Gipfel im Juni
wieder über die Beziehungen zur Türkei gesprochen werden soll.