Niedersachsen fordert Beteiligung an Brexit-Entschädigung

09.04.2021 07:00

Vor 100 Tagen hat Großbritannien nach zähen Verhandlungen die EU
verlassen. Das hat Folgen auch für die Wirtschaft in Niedersachsen.
Europaministerin Honé dringt deshalb auf Ausgleichszahlungen.

Hannover (dpa/lni) - Rund drei Monate nach dem Brexit werden die
Folgen für die niedersächsische Wirtschaft allmählich sichtbar. Um
die Einbußen abzufedern, die sich aus dem britischen EU-Austritt
ergeben, stellt die EU-Kommission viel Geld zur Verfügung. Für
Deutschland stünden aus der sogenannten Brexit-Anpassungsreserve 455
Millionen Euro bereit, sagte Niedersachsens Europaministerin Birgit
Honé (SPD) der Deutschen Presse-Agentur in Hannover. Ob das Land
daran beteiligt werde, sei allerdings noch unklar.

«Wir müssen mit dem Bund darüber reden, wie dieses Geld ausgegeben
werden soll, denn bisher hat der Bund gar keine Länderbeteiligung
geplant», kritisierte Honé. Bei einer Abfrage ihres Ministeriums habe
die niedersächsische Wirtschaft Bedarfe von rund 75 Millionen Euro
gemeldet, und die Schäden dürften nach Einschätzung der Ministerin
noch höher sein. «Viele Branchen leiden, auch die Fischerei.»

100 Tage nach dem EU-Austritt Großbritanniens äußerte sich Honé auc
h
zu weiteren Auswirkungen für Niedersachsen. Ein Überblick.

WIRTSCHAFTLICHE FOLGEN: Die meisten niedersächsischen Unternehmen
sind nach Einschätzung der Ministerin gut auf den Brexit vorbereitet
gewesen. Allerdings seien die Exporte nach Großbritannien schon seit
2015 kontinuierlich zurückgegangen, insgesamt um bisher 13,8 Prozent.
«Vor sechs Jahren war Großbritannien für Niedersachsen der
zweitwichtigste Handelspartner nach den Niederlanden. Mittlerweile
sind sie auf Platz vier, Frankreich und die USA haben sich dazwischen
geschoben», sagte Honé. «Die Wirtschaft hat sich umgestellt, um die
Lieferketten ohne Großbritannien zu sichern. Die Autoindustrie ist
davon besonders betroffen.»

LÜCKEN IM ABKOMMEN: Das Brexit-Abkommen lässt für Honé noch viele
Fragen offen. So fehle insbesondere eine Regelung zur Anerkennung von
Berufsabschlüssen. «Das wurde schlicht außer Acht gelassen. Das
betrifft das Handwerk, aber zum Beispiel auch deutsche Ärzte, die in
Großbritannien bei Notdiensten aushelfen.»

Es mache ihr zudem große Sorgen, dass Großbritannien aus dem
Studenten- und Schüleraustausch ausgestiegen ist. «Den jungen Leuten
wurde diese Möglichkeit genommen, wenn sie nicht aus einem reichen
Elternhaus kommen. Das ist wirklich bitter.» Die neuen Visagebühren
machten es darüber hinaus für Künstler aus EU-Ländern schwieriger,
in
Großbritannien aufzutreten und andersherum. «Das ist ein kultureller
Verlust, den wir noch spüren werden», warnte die SPD-Politikerin.

KÜNFTIGE ZUSAMMENARBEIT: «Ich würde mir wünschen, dass der Austausc
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mit Großbritannien weiterlebt», sagte sie. Das Land wolle
beispielsweise für Schüleraustausche werben und mit der
Bundesregierung darüber reden, ob Studenten, die nach Großbritannien
gehen wollen, nach dem Wegfall des Erasmus-Programms anderweitig
unterstützt werden könnten. «Ich rufe auch alle Bürgermeister und
Bürgermeisterinnen auf, darüber nachzudenken, ob sie nicht - wenn
Corona es zulässt - eine Städtepartnerschaft anstreben wollen.»

EINBÜRGERUNGEN: Viele Briten haben die lange Vorlaufzeit des Brexits
dafür genutzt, einen deutschen Pass zu beantragen. Derzeit leben
ungefähr 6000 ohne doppelte Staatsbürgerschaft in Niedersachsen. «Zu

Beginn der Brexit-Debatte waren es ungefähr 10 000», sagte Honé.
«Daran sieht man, dass es in den letzten Jahren einen Run auf die
doppelte Staatsbürgerschaft gegeben hat.» Einen Höhepunkt gab es
2019: In dem Jahr wurden rund 2200 Briten in Niedersachsen
eingebürgert - fast vier Mal so viele wie im Vorjahr.