Analyse: EU-Schuldenregeln behindern soziale und klimapolitische Ziele

08.04.2024 14:25

Nach langer Debatte steht seit Februar die Einigung auf neue
EU-Schuldenregeln. Doch die Vorschriften könnten laut einer Analyse
in vielen Ländern große Löcher reißen - auch an sensiblen Stellen.


Brüssel (dpa) - Die geplanten neuen europäischen Schuldenregeln
könnten einer Untersuchung zufolge Investitionen in Bereiche wie
Gesundheit, Bildung und Umweltschutz im Weg stehen. Bei Einhaltung
der geplanten Regeln für Haushaltsdefizite und Staatsschulden seien
ab 2027 nur noch Dänemark, Schweden und Irland in der Lage, sich die
notwendigen Ausgaben zu leisten, heißt es in einem am Montag vom
Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) und der New Economics Foundation
(NEF) veröffentlichten Bericht. Auch in Deutschland würden demnach
Investitionen stark gehemmt, hieß es.

Die geplanten Regeln machten Europa ärmer, schadeten dem sozialen
Gefüge der EU und schwächten die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft,

kritisierten die Autoren. «Die Annahme der vorgeschlagenen
Haushaltsregeln würde weniger Krankenhäuser, Schulen und
erschwingliche Wohnungen bedeuten, und das zu einer Zeit, in der der
Druck auf alle drei Bereiche steigt», sagte die EGB-Generalsekretärin
Esther Lynch.

Nach langer Debatte hatten sich die EU-Länder und das Parlament
Anfang Februar auf neue gemeinsame Schuldenobergrenzen verständigt.
Zwar soll die individuelle Situation von Ländern stärker als bislang
berücksichtigt werden. Grundsätzlich gilt in der EU aber weiterhin,
dass der Schuldenstand eines Mitgliedstaates 60 Prozent der
Wirtschaftsleistung nicht überschreiten darf. Zudem gilt es, das
gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit - also die vor allem durch
Kredite zu deckende Lücke zwischen den Einnahmen und Ausgaben des
öffentlichen Haushalts - unter drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts
(BIP) zu halten. Die neuen Pläne sehen weiterhin unter anderem klare
Mindestanforderungen für die Rückführung von Schuldenstandsquoten f
ür
hoch verschuldete Länder vor.

Kritiker betonten stets, dass die Regeln nötige Investitionen etwa in
Klimaschutz oder in den sozialen Bereich die Luft abschnürten.
Dagegen hatte die belgische EU-Ratspräsidentschaft zur Einigung im
Februar mitgeteilt, die neuen Regeln würden dazu beitragen,
ausgewogene und auf Dauer tragfähige öffentliche Finanzen zu
erreichen sowie Strukturreformen durchzuführen. Die Einigung muss
noch vom Plenum des Europaparlaments und dem EU-Ministerrat bestätigt
werden. Das ist derzeit für Ende April geplant.

Unter Berufung auf Zahlen der Europäischen Kommission gehen die
Autoren des Berichts davon aus, dass die Investitionen in die soziale
Infrastruktur in Europa bereits jetzt um 192 Milliarden Euro pro Jahr
unter dem Bedarf der Bürger liegen. Die Ergebnisse der Untersuchung
nun zeigten, dass die vorgeschlagenen Haushaltsvorschriften
kontraproduktiv für die sozialen und klimapolitischen Ziele der EU
wären, schrieben die Autoren weiter.

Damit alle Mitgliedsstaaten ihren Bedarf an sozialen und grünen
öffentlichen Investitionen decken können, würden ab 2027 - nach dem
Auslaufen des milliardenschweren Corona-Aufbaufonds - zusätzlich 300
bis 420 Milliarden Euro jährlich benötigt, so die Autoren. Das
entspreche 2,1 bis 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der
Staatengemeinschaft. Der erhöhte Investitionsbedarf könnte durch
flexiblere Haushaltsvorschriften, neue Steuern und die Schaffung
eines langfristigen EU-Investitionsfonds gedeckt werden, schlagen sie
vor.