Ist Klimaschutz ein Menschenrecht? Gerichtshof urteilt in drei Fällen Von Regina Wank, dpa

09.04.2024 04:35

Die Kläger könnten unterschiedlicher nicht sein, aber sie wollen das
Gleiche: Mehr Klimaschutz. Jetzt urteilt der Gerichtshof für
Menschenrechte. Geht es den angeklagten Regierungen nun an den
Kragen?

Straßburg (dpa) - Verletzt ein Staat Menschenrechte, wenn er nicht
genügend gegen den Klimawandel tut? Zu dieser Frage will der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) an diesem Dienstag
in Straßburg gleich drei Urteile sprechen. Geklagt haben sowohl
mehrere Jugendliche aus Portugal als auch Seniorinnen aus der Schweiz
und ein französischer Bürgermeister. Die Urteile könnten auch
Auswirkungen auf Deutschland haben.

Rentnerinnen und Teenager für mehr Klimaschutz

Die jungen Kläger aus Portugal werfen 32 europäischen Staaten -
darunter auch Deutschland - vor, die Klimakrise verschärft und damit
die Zukunft ihrer Generation gefährdet zu haben. Anlass für ihre
Klagen waren die verheerenden Waldbrände von 2017 in ihrem
Heimatland. Wenn sie Recht bekommen, könnte der EGMR die Regierungen
der EU-Mitgliedsländer und der mitangeklagten Staaten Norwegen,
Russland, Türkei, Schweiz und Großbritannien auffordern, strengere
Klimaziele zu beschließen und einzuhalten. 

Die von Greenpeace initiierte Gruppe älterer Frauen aus der Schweiz
will erreichen, dass die Alpenrepublik ihre Treibhausgasemissionen
stärker reduzieren muss. Die sogenannten Klimaseniorinnen geben an,
dass sie durch mangelnde Klimaschutzmaßnahmen in ihrem Recht auf
Leben sowie auf Privat- und Familienleben verletzt würden. Im dritten
Verfahren geht es um die Klage eines französischen Ex-Bürgermeisters.
Er meint, Frankreich habe keine ausreichenden Maßnahmen zur
Verhinderung des Klimawandels ergriffen. 

Warum die Urteile besonders sind

Die Klage der Schweizerinnen gilt als erste Klimaklage überhaupt, die
vor dem EGMR verhandelt wurde. Außerdem hat Straßburg wohl selten
einen so großen Prozess gesehen wie den der sechs portugiesischen
Jugendlichen: Allein aufseiten der gerügten Staaten waren bei der
Anhörung 80 Anwälte vertreten. Erwartet werden nun ein weltweites
Medieninteresse und große Solidaritätsbekundungen für die
Klimaaktivisten. Die schwedische Aktivistin Greta Thunberg soll
ebenfalls vor Ort sein. 

Auch inhaltlich sind die Fälle spannend: Der EGMR hat sich zwar zuvor
schon mit Umweltemissionen wie Lärm oder Luftverschmutzung
auseinandergesetzt, aber noch nie mit den CO2-Emissionen eines
Landes. «Wir hoffen auf ein Leiturteil, dass Klimaschutz eine
menschenrechtliche Frage ist und nicht nur auf eine bloße
Absichtserklärung», sagte die Klimaseniorin Stefanie Brander vor der
Anhörung der Deutschen Presse-Agentur.

Der EGMR gehört zum Europarat und ist für die Einhaltung der
Menschenrechtskonvention zuständig. Im Europarat sitzen die
EU-Staaten, aber auch andere große Länder wie die Türkei oder
Großbritannien. Spräche sich dieses supranationale Gericht nun etwa
für strengere Vorgaben beim Klimaschutz aus, hätte das in jedem Fall
große Signalwirkung. 

Was die Urteile für Deutschland bedeuten könnten

Ein Urteil des EGMR bindet grundsätzlich nur das Land, das verurteilt
wird. «Stellt das Gericht fest, dass Portugal oder die Schweiz
Menschenrechte verletzt haben, hätte das für Deutschland lediglich
indirekte Folgen», erklärt die Völkerrechtlerin Birgit Peters. Zum
Beispiel könnte die Bundesrepublik unter der Menschenrechtskonvention
dann genauso wie das gerügte Land verpflichtet sein, Treibhausgase
weiter zu reduzieren, um das Leben und die Gesundheit der Menschen zu
schützen. 

Die jungen Portugiesen haben nicht nur ihre Heimat, sondern einen
Großteil der Länder des Europarats verklagt - also auch Deutschland.
Sollten die Richter zu dem Schluss kommen, dass auch Deutschland
wegen mangelhaften Klimaschutzes die portugiesischen Jugendlichen in
ihren Menschenrechten verletzt hat, so könnte das Gericht Deutschland
zum Beispiel dazu verpflichten, die Vorgaben des Pariser
Klimaübereinkommens zu beachten, wie Peters sagt. «Da die
Bundesrepublik die Einhaltung dieser Verpflichtungen im aktuellen
Klimaschutzgesetz umgesetzt hat, würde sich aber erst einmal nichts
für Deutschland ändern.» Ändern würde sich demnach allein etwas,
wenn
die Reduktionsverpflichtungen der Staaten anders definiert würden,
also die Richter Deutschland aufforderten, noch mehr CO2 zu
reduzieren als bislang. Ob der Gerichtshof allerdings so weit geht,
bleibt abzuwarten. 

Wie die Chancen stehen

Einige Beobachter hatten damit gerechnet, dass zumindest die Klage
der Jugendlichen gleich abgewiesen werden würde. Denn normalerweise
müssen sich Betroffene erst in ihrem Heimatland durch die Instanzen
klagen, bevor der EGMR angerufen werden kann. Das hatten die
Portugiesen nicht getan. Die Richter machten jedoch eine Ausnahme und
verwiesen den Fall zusammen mit den anderen beiden Klagen an die
Große Kammer. Dass die Klagen dort verhandelt wurden, spricht dafür,
dass die Richter den Verfahren besondere Bedeutung beimessen und der
Fall zumindest nicht ganz aussichtslos erscheint.

Einer der entscheidenden Punkte in allen drei Fällen wird die
sogenannte Opfereigenschaft sein. Das bedeutet, dass man direkt oder
indirekt von der potenziellen Menschenrechtsverletzung betroffen sein
muss. Am Tag vor dem Urteil zeigten sich die Klägerinnen und Kläger
nervös, aber kämpferisch: «Eines ist sicher: Wir werden nicht
aufhören, egal, wie es ausgeht», sagte der 15-jährige André dos
Santos Oliveira.