Urteil mit Signalwirkung: Klimaklage vor Menschenrechtshof erfolgreich Von Regina Wank, dpa

09.04.2024 15:50

Es ist eine Premiere: Der Gerichtshof für Menschenrechte stellt sich
in einem deutlichen Urteil hinter eine Klage älterer Frauen, die von
der Schweiz mehr Klimaschutz verlangen. Das eröffnet Klimaschützern
neue Möglichkeiten - nicht nur in der Schweiz.

Straßburg (dpa) - Als die «Klimaseniorinnen» aus dem Gerichtssaal
kamen, war der Jubel groß. Der Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR)
hatte gerade entschieden, dass Staaten für Menschenrechtsverletzungen
belangt werden können, wenn sie nicht genug für den Klimaschutz tun.
Die Richterinnen und Richter verurteilten am Dienstag im
französischen Straßburg die Schweiz, weil sie durch mangelnden
Klimaschutz das Recht auf Familien- und Privatleben der Klägerinnen
verletzt habe. Damit sprach der Gerichtshof erstmals ein Urteil in
einer Klage, die für mehr Klimaschutz eintrat.

Die Menschenrechtskonvention gewähre eine Verpflichtung der Staaten,
die Bevölkerung vor den schwerwiegenden nachteiligen Auswirkungen des
Klimawandels auf Leben und Gesundheit zu schützen, so die Richter.
Die Klägerinnen hatten argumentiert, dass sie durch ihr Alter durch
den Klimawandel besonders gefährdet seien, beispielsweise wegen
extremer Hitzewellen.  Die «Klimaseniorinnen» sind ein von Greenpeace

unterstützter und initiierter Verein mit mehr als 2000 Mitgliedern in
der Schweiz. Ihr Durchschnittsalter beträgt 73 Jahre.

Die Co-Präsidentin des Vereins, Anne Mahrer, bezeichnete die
Entscheidung als Genugtuung: «Seit neun Jahren kämpfen wir mit
Unterstützung von Greenpeace für Klimagerechtigkeit. Nachdem uns die
Schweizer Gerichte nicht angehört haben, bestätigt nun der EGMR:
Klimaschutz ist ein Menschenrecht.» Grünen-Bundestagsfraktionschefin
Katharina Dröge sprach von einem historischen Erfolg. 

Präzedenzfall für künftige Klagen

Für Deutschland hat die Entscheidung Folgen, auch wenn ein Urteil des
EGMR grundsätzlich nur das Land bindet, das verurteilt wurde. Denn
die Menschenrechtskonvention, auf die sich der EGMR bezieht, ist für
alle Länder des Europarats verpflichtend. Dazu zählen 46 europäische

Staaten, neben den EU-Mitgliedern auch andere große Länder wie die
Türkei oder Großbritannien. Dass der EGMR nun so deutlich eine
Verpflichtung der Länder für Klimaschutz aus der
Menschenrechtskonvention ableitet, ist ein starkes Zeichen und könnte
Türen für weitere Klagen öffnen - sowohl vor dem EGMR als auch vor
nationalen Gerichten.

«Die Bedeutung dieses Entscheids ist nicht zu überschätzen. Er wird
weltweit für weitere Klimaklagen gegen Staaten wie auch gegen
Unternehmen von großer Bedeutung sein und deren Erfolgsaussichten
erhöhen», sagte die leitende Rechtsanwältin der «Klimaseniorinnen
»,
Cordelia Bähr.  Die «Klimaseniorinnen» hatten unter anderem gerüg
t,
dass die Schweiz keine geeignete Gesetze erlassen habe, um den
Klimawandel zu bekämpfen. Der Gerichtshof bemängelte unter anderem,
das Land habe seine Ziele zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen
in der Vergangenheit nicht erreicht. Die schweizerischen Behörden
hätten nicht rechtzeitig und angemessen gehandelt, um entsprechende
Gesetze auszuarbeiten.

Wie es nun in der Schweiz weiter geht, ist offen. Die Alpenrepublik
muss dem Urteil unbedingt Folge leisten, bei der Umsetzung gibt es
aber Entscheidungsspielraum. Denkbar ist, dass die Klägerinnen erneut
in ihrem Heimatland vor Gericht ziehen, nachdem der EGMR auch
entschieden hat, dass ihr Recht auf ein faires Verfahren in der
Schweiz verletzt wurde. In jedem Fall muss die Schweiz den
Klimaseniorinnen ihre Kosten in Höhe von 80 000 Euro erstatten.
Schadenersatz für die erlittenen Menschenrechtsverletzungen hatten
die Frauen nicht gefordert. 

Andere Klagen weniger erfolgreich: «Ein Sieg für uns alle»

Zwei andere Klimaklagen aus Frankreich und Portugal wurden vom
Gerichtshof am Dienstag abgewiesen. Ein ehemaliger französischer
Bürgermeister hatte geklagt, weil sein Heimatort am Ärmelkanal vom
steigenden Meeresspiegel bedroht sei. Die Richterinnen und Richter
erklärten seine Klage jedoch für unzulässig. Er wohne nicht mehr in
dem Küstenort. Daher fehle ihm die sogenannte Opfereigenschaft, weil
er nicht direkt oder indirekt von einer potenziellen
Menschenrechtsverletzung betroffen sei. 

Besonderes Augenmerk lag auch auf der Klage von sechs portugiesischen
Jugendlichen. Sie hatten sich nach den verheerenden Waldbränden in
ihrer Heimat 2017 entschlossen, nicht nur ihr Heimatland, sondern
mehr als 30 andere europäische Staaten zu verklagen - darunter
Deutschland. Auch hier entschieden die Richter aber auf
Unzulässigkeit: Die Teenager hätten sich zuerst in Portugal durch die
Instanzen klagen müssen, bevor sie den Gerichtshof anrufen. Außerdem
gebe es in der Menschenrechtskonvention keine Grundlage dafür, dass
Staaten außerhalb ihres Hoheitsgebiets derart weitreichend haftbar
gemacht werden können. 

Die 19-jährige Klägerin Sofia Oliveira sagte, sie sei «natürlich
enttäuscht». «Aber das Wichtigste ist, dass der Gerichtshof im Fall
der Schweizer Frauen gesagt hat, dass die Regierungen ihre Emissionen
stärker reduzieren müssen, um die Menschenrechte zu schützen. Ihr
Sieg ist also auch ein Sieg für uns und ein Sieg für alle!» 

Eine der größten Verfahren die Straßburg je gesehen hat

Straßburg hat wohl selten ein so großes Interesse an einem Verfahren
gesehen. Welch große Bedeutung die Richter den Prozessen zuwiesen,
zeigte sich bereits daran, dass alle drei Verfahren vor der Großen
Kammer mit einer besonderen Priorität entschieden wurden. Schon am
Morgen gab es Solidaritätsbekundungen vor dem Gebäude von Jung und
Alt. Zur Urteilsverkündung reisten mehrere Hundert Menschen an, auch
die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg war vor Ort.