Wie geht es jetzt mit Tiktok weiter? Von Andrej Sokolow, dpa

25.04.2024 04:15

Für Tiktok wird es ernst: Ein US-Gesetz, das einen Eigentümerwechsel
bei der Kurzvideo-App erzwingen soll, ist nun in Kraft. Das Ultimatum
könnte Tiktok für alle Nutzer verändern.

Washington (dpa) - Für Tiktok tickt die Uhr: Die populäre
Kurzvideo-App soll in den USA nicht mehr verfügbar sein, wenn sie in
einem Jahr noch dem in China ansässigen Konzern Bytedance gehört.
Tiktok hat zwar auch ähnliche Probleme wie andere Online-Plattformen:
extremistische Beiträge, potenziell gefährliche Trends, Vorwürfe von

Suchtgefahr. Doch in diesem Fall bringt die US-Politik das Risiko von
Datensammlung und Propaganda durch China in den Vordergrund.

Was passiert jetzt?

Zunächst einmal nichts sofort. Das Gesetz gibt Bytedance neun Monate,
Tiktok an einen von den USA akzeptierten Investor zu verkaufen.
US-Präsident Joe Biden kann die Frist um weitere drei Monate
verlängern, wenn er Fortschritte in den Verkaufsverhandlungen sieht.
Tiktok machte allerdings bereits deutlich, dass man zunächst vor
Gericht ziehen und alle rechtlichen Mittel ausschöpfen wolle. Als
Erstes dürfte die Firma eine einstweilige Verfügung anstreben, die
den Countdown aussetzt.

Wie stehen die Chancen, dass US-Gerichte das Gesetz stoppen?

Das ist nicht ganz unrealistisch. Tiktok kritisiert den Plan als
Verstoß gegen die in der US-Verfassung verankerte Redefreiheit. Und
ein ähnliches Gesetz im Bundesstaat Montana wurde von einem Gericht
genau wegen solcher Bedenken auf Eis gelegt. Als Bundesgesetz hat das
aktuelle Vorgehen aber eine solidere rechtliche Basis als Donald
Trumps Verbotsdrohung per Präsidentenerlass 2020. Damals befanden
Richter auch, dass er seine Vollmachten überschritt.

Warum soll Tiktok überhaupt einen neuen Besitzer bekommen?

Verfechter des Eigentümerwechsels verweisen vor allem auf zwei
Risiken: Chinesische Behörden könnten Zugang zu Informationen der
mehr als 170 Millionen US-Nutzer bekommen - und China könne die
Plattform missbrauchen, um die öffentliche Meinung zu manipulieren.
Tiktok konterte stets, man habe nie solche Behördenanfragen bekommen
und wäre diesen auch nicht nachgekommen. Das Gesetz verbietet
generell Apps von Betreibern, die als gegnerisch eingestuft werden.

Gibt es Beweise für solche Tiktok-Gefahren?

Zumindest keine öffentlich zugänglichen. Einige US-Kongressmitglieder
sagten nach vertraulichen Briefings durch FBI- und Geheimdienste
zwar, sie seien schockiert über Chinas Möglichkeiten, Tiktok für
Datensammlung und Propaganda zu nutzen. Aber Details dazu wurden
bisher nicht bekannt. 

Was könnte man theoretisch aus Tiktok-Daten erfahren?

Zu wissen, wofür sich Millionen Menschen in einem Land interessieren,
kann für rivalisierende Staaten sehr hilfreich sein. Noch wertvoller
ist es, wenn man Profile einzelner Personen kennt - und Forscher
demonstrierten mehrfach, wie durch die Analyse von Daten aus
verschiedenen Quellen auch anonyme Accounts Rückschlüsse auf konkrete
Personen liefern. Tiktok bestreitet, dass so etwa passiert. Zugleich
ist Online-Spionage aus China an sich durchaus real. Mehrere große
Daten-Hacks kamen nach Einschätzung von Experten aus dem Land. 

Wenn Tiktok so gefährlich ist, wieso sind dann jüngst das
Wahlkampfteam von Biden und Bundeskanzler Olaf Scholz auf die
Plattform gekommen?

Dort sind junge Leute zu erreichen. Insbesondere für Biden ist das
wichtig vor der Präsidentenwahl im November - und deshalb war ein
Tiktok-Verbot in seiner Demokratischen Partei auch immer umstritten.

Was könnte das US-Gesetz für Nutzer in anderen Ländern bedeuten?

Eine Verbannung von Tiktok aus europäischen App-Stores steht nicht
an. Aber: Verändern könnte sich die App für alle. Das Erfolgsrezept
von Tiktok ist der Algorithmus, der entscheidet, welcher Clip als
nächster angezeigt wird. Die Software analysiert dafür auch, wie
lange man vor dem weiterscrollen auf ein Video schaut. Ob der
Algorithmus bei einem Verkauf von Tiktok mitkommen würde, ist
fraglich. In den USA gibt es eher Bestrebungen, ihn mit einheimischer
Technologie zu ersetzen. Die App könnte sich dann etwas anders
anfühlen. Außerdem könnten populäre Tiktoker wegen des drohenden
US-Verbots auf andere Plattformen abwandern - schließlich haben
Instagram und YouTube auch eine Kurzvideo-Funktion.

Sind die USA das erste Land, in dem Tiktok das Aus droht?

Nein, Indien verbot Tiktok bereits 2020 zusammen mit Dutzenden
anderen chinesischen Apps. Nutzer und Video-Autoren wechselten
hauptsächlich zu YouTube und Instagram.

Leitete die EU-Kommission nicht gerade auch Ermittlungen gegen Tiktok
ein?

Ja, aber da geht es um ein anderes Problem. Die Kommission stieß sich
daran, dass der Dienste in Frankreich und Spanien ohne eine
Risikobewertung eine App mit dem Namen Tiktok Lite startete, bei der
Nutzer Punkte für das Anschauen von Videos sammeln können. Die
Behörde befürchtet dadurch eine Suchtgefahr. Tiktok setzte die
Funktion aus. Wegen der China-Risiken wies die Kommission schon
vergangenes Jahr ihre Mitarbeiter an, die App auf Dienst-Telefonen zu
löschen.

Sind Bytedance - und damit auch Tiktok - überhaupt chinesisch?

Das Unternehmen selbst bestreitet das. Die zentrale Begründung ist,
Bytedance sei zu 60 Prozent im Besitz internationaler Investoren und
der eingetragene Firmensitz liege auf den Cayman-Inseln in der
Karibik. Das Gegenargument lautet, dass die chinesischen Gründer bei
einem Anteil von 20 Prozent die Kontrolle dank höherer Stimmrechte
hielten und Bytedance eine große Zentrale in Peking habe, wodurch man
sich dem Einfluss der Regierung nicht entziehen könne. Unter anderem
wird auf ein Gesetz verwiesen, dass die Kooperation bei Anfragen von
Sicherheitsbehörden vorschreibt.

Wie geht Tiktok nach eigenen Angaben mit den Nutzerdaten um?

Der Dienst versicherte stets, dass Daten amerikanischer Nutzer nur in
den USA und in Singapur gelagert würden. Um Vertrauen zu gewinnen,
setzte Tiktok auf «Project Texas»: Datenspeicherung nur in den USA,
Überwachung des Zugangs dazu sowie des Quellcodes der App durch
Experten des US-Konzerns Oracle. Das überzeugte die US-Politik nicht.
In Europa laufen ähnliche Maßnahmen mit «Project Clover» in Irland.


Könnte Tiktok auch ohne ein Geschäft in den USA überleben?

Möglich, schließlich hat die App mehr als eine Milliarde Nutzer.
Allerdings sind die USA ein wichtiger Online-Markt - und ein Aufstieg
rivalisierender Kurzvideo-Plattform dort könnte auch auf andere
Weltregionen abfärben.

Wer könnte Tiktok kaufen - und wie teuer könnte das werden?

Ein fairer Preis könnte bei mehreren Dutzend Milliarden Dollar
liegen. Die amerikanischen Tech-Riesen, die so etwas locker stemmen
könnten, kommen mit großer Wahrscheinlichkeit aus Wettbewerbsgründen

nicht als Käufer infrage. Der frühere US-Finanzminister Steven
Mnuchin kündigte bereits an, dass er eine Investorengruppe
organisiere. Unklar ist, wer dabei mitmacht.