Kaliningrad fürchtet wegen Aufrüstung um EU-Kontakte Von Thoralf Plath, dpa
07.12.2011 15:52
Russland rüstet seine Ostsee-Exklave Kaliningrad auf: Ein modernes
Radarsystem und Flugabwehrraketen sorgen für neuen Streit zwischen
Moskau und der Nato. Doch was das Militär jubeln lässt, gefällt den
Einwohnern rund um das frühere Königsberg gar nicht.
Kaliningrad (dpa) - Säbelrasseln an der Ostsee: Mit einem neuen
Radarsystem und Flugabwehrraketen stellt Russland inmitten des
Nato-Luftraums die Zeichen auf Streit. Ein Signal an den Westen nennt
Kremlchef Dmitri Medwedew die modernen Waffen unweit der Stadt
Kaliningrad. Die Aufrüstung gut 20 Jahre nach Ende des Kalten Krieges
ist Moskaus Antwort auf US-Pläne für ein Raketenabwehrsystem in
Europa. Die Armee bejubelt die Machtdemonstration. Doch den
Einwohnern des früheren Königsberg schmeckt die Re-Militarisierung
ihrer Heimat überhaupt nicht - sie fürchten eine neue Eiszeit.
«Für uns Kaliningrader sind diese Pläne nicht gut», sagt Gennadi
Sacharow, einst selbst Funkoffizier. «Wenn unsere Regierung jetzt
wieder beginnt, hier Raketen aufzustellen, kann man die Öffnung nach
Europa doch vergessen», kritisiert er. In der Tat hat Medwedew
gedroht, auch Angriffswaffen in Kaliningrad aufzustellen, falls der
Westen Russland nicht in seine Raketenabwehrpläne einbindet.
Er hoffe auf eine Beilegung des Streits, sagt Medwedew kurz vor
einem Treffen der Nato-Außenminister mit ihrem russischen Kollegen
Sergej Lawrow an diesem Donnerstag in Brüssel. Die Nato gibt sich
irritiert über die russische Militarisierung, Generalsekretär Anders
Fogh Rasmussen spricht von «Geldverschwendung».
Der Kaliningrader Sacharow ist Fuhrunternehmer. Jede Woche pendelt
er mit seinem Kleinbus zwischen Danzig, Berlin und Kaliningrad,
bringt Passagiere vom Pregel bis an die Donau. Für ihn ist es kein
Widerspruch, zu Russland zu gehören und sich geschäftlich nach Europa
zu orientieren: «Kaliningrad liegt nun einmal mitten in der EU. Das
ist unsere Chance, nicht das Militär», sagt Sacharow.
Wer in Kaliningrad lebt, blickt nach Westen. Geschäftskontakte in
die EU- und Nato-Nachbarn Polen und Litauen sind für viele längst
ebenso Alltag wie Reisen nach Deutschland. Von Kaliningrad nach
Berlin sind es nur 550 Kilometer, in die eigene Hauptstadt Moskau ist
es mehr als doppelt so weit. Die EU-Konsulate kommen mit der Ausgabe
von Schengen-Visa kaum hinterher, die polnische Gesandtschaft hat mit
100 000 Einreiseerlaubnissen gerade die Auslastungsgrenze erreicht.
Erstmals soll im kommenden Jahr ein visafreier kleiner
Grenzverkehr eingeführt werden zwischen dem Gebiet Kaliningrad mit
knapp einer Million Einwohnern und einem 50 Kilometer breiten
Streifen in Polen. In Russlands westlichster Großstadt hoffen die
Einwohner, dass dies ein erster Schritt hin zur ersehnten kompletten
Abschaffung der Visapflicht ist.
Der Lokalpolitiker Solomon Ginsburg warnt deshalb davor, die
ehemalige militärstrategische Rolle Kaliningrads wiederaufleben zu
lassen. «Das wäre der falsche Weg, er führt in die Isolation», sagt
Ginsburg. Das Gebiet könne vielmehr von seiner geopolitischen Lage
profitieren. «Aber dazu bräuchte es eine stärkere regionale
Einbindung in die Entwicklungskonzepte im Ostseeraum.» Ohnehin ist
die Stimmung aufgeheizt: Am Mittwoch protestieren 1000
Regierungsgegner gegen Wahlfälschungen bei der Parlamentswahl.
Wie Ginsburg vermisst auch Alexandra Smirnowa ein Konzept, was
Moskau mit seinem Vorposten an der Ostsee vorhat. Die ehemalige
Wirtschaftsministerin der Gebietsregierung fordert mehr ökonomische
Autonomie. Kaliningrad solle eine wirtschaftliche Drehscheibe
zwischen Russland und dem Westen werden, schlägt sie vor.
Militärisch spielte Russlands Vorposten, ein Gebiet etwa von der
Größe Schleswig-Holsteins, zuletzt kaum noch eine Rolle. Kaliningrad
wurde in den 1990er Jahren radikal abgerüstet, Dutzende Armeeobjekte
wurden aufgelöst. Stationiert ist hier derzeit nur die Baltische
Flotte mit etwa 25 000 Mann.
Nun kommt die schwere Technik zurück: Mit ihrem Radarsystem kann
die russische Armee nicht nur ballistische Interkontinentalraketen
beim Start orten, sondern auch Kurz- und Mittelstreckenraketen sowie
Marschflugkörper anpeilen. Die Flugabwehrraketen sollen nahende
Kampfflugzeuge zerstören. Aus dem einst hermetisch abgeriegelten
sowjetischen Sperrbezirk Kaliningrad im äußersten Westen Russlands
kommen wieder militärische Signale.
# dpa-Notizblock
## Redaktionelle Hinweise
- Zusammenfassung bis 1700, ca. 40 Zl
## Internet
- [Nato und Russland]( http://dpaq.de/fO3Zk)
- [Über Solomon Ginsburg, auf Russisch](http://dpaq.de/LOeM9)
## Orte
- [Radarsystem](Pionerski, Gebiet Kaliningrad, Russland)
- [Außenminister-Treffen](Brüssel, Belgien)