EU zieht Lehren aus Medizinskandalen - Mehr Kontrolle für Medikamente Von Marion Trimborn, dpa

11.09.2012 17:01

Immer wieder sorgen Arzneimittelskandale für Schlagzeilen. An starken
Nebenwirkungen erkranken in Europa jährlich tausende Menschen. Die EU
will Patienten mit neuen Regeln besser schützen. Doch es gibt Lücken.

Straßburg/Brüssel (dpa) - Das Schmerzmittel Contergan erreichte
vor mehr als 50 Jahren traurige Berühmtheit. Schwangere brachten nach
der Einnahme missgebildete Babys auf die Welt. Seitdem hat sich viel
geändert, Kontrollen sorgen für mehr Sicherheit. Doch auch heute
müssen Pharmahersteller noch nach Jahren Medikamente vom Markt
nehmen. Nun zieht die EU die Konsequenzen. Hersteller werden schärfer
kontrolliert und Beipackzettel verständlicher. Das EU-Parlament
beschloss neue Regeln, die Mitte 2013 in Kraft treten sollen.

Warum sind schärfere Zulassungsregeln nötig?

Tabletten und andere Medikamente können schwerwiegende
Nebenwirkungen haben, die oft erst nach der Genehmigung (Zulassung)
festgestellt werden. Grund dafür ist, dass bei Studien das Medikament
nur an einer begrenzten Zahl von Probanden getestet wird, danach aber
Millionen Menschen das Präparat einnehmen. Bestimmte Wechselwirkungen
sind nicht erkennbar. Langzeitfolgen tauchen erst nach Jahren auf.

Welche Folgen hat das?

Nach EU-Schätzungen werden fünf Prozent aller Krankenhauspatienten
wegen Nebenwirkungen eingeliefert. Unerwünschte Folgen von
Medikamenten gelten als die fünfthäufigste Todesursache in Kliniken.
Für einen der bekanntesten Skandale sorgte zuletzt das Schmerzmittel
Vioxx, das der US-Pharmakonzern Merck 2004 zurückzog, weil es das
Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle erhöhte. 2009 wurde das
Schlankheitsmittel Mediator des französischen Pharmariesen Servier
nach Hunderten Todesfällen verboten.

Wie werden Medikamente überwacht?

Staatliche Behörden sorgen für die Kontrolle, in Deutschland etwa
das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Laut Gesetz
muss ein Hersteller bestimmte Voraussetzungen für die Zulassung
erfüllen und bei Schäden haften. Auf EU-Ebene ist die Europäische
Arzneimittel-Agentur (EMA) zuständig. Sie betreibt die Datenbank
EudraVigilance, die Berichte über Nebenwirkungen sammelt.

Was ändert sich künftig?

Pharmafirmen kommen an die kurze Leine. Nimmt ein Hersteller ein
Medikament vom Markt, muss er die Gründe angeben und klar sagen, ob
es etwa fehlender Umsatz oder Sicherheitsbedenken sind. Die nationale
Zulassungsbehörde meldet das an die EU-Arzneimittel-Agentur. Diese
informiert dann automatisch alle anderen Mitgliedsstaaten, damit sie
reagieren können. Falls ein Staat einem Medikament die Zulassung
entzieht, wird dies auch auf EU-Ebene geprüft. Die Liste der
Produkte, die unter besonderer Beobachtung stehen, wird erweitert.

Was können Patienten tun?

Auf den Seiten der nationalen Behörden finden Patienten
Informationen über Nutzen und Risiken von Medikamenten. Beipackzettel
von verschreibungspflichtigen Medikamenten müssen im Internet stehen.
Die Werbung für solche Präparate bleibt verboten. Wer Nebenwirkungen
an sich bemerkt, die nicht auf dem Beipackzettel aufgelistet sind,
kann diese auf einem speziellen Formular ( http://dpaq.de/iEKv8) an
das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte melden.

Und der Beipackzettel?

«Zu schwer verständlich, zu unleserlich, zu unübersichtlich» - s
o
beschreibt die EU-Abgeordnete Anja Weisgerber (CSU) Packungsbeilagen.
Sie sollen Patienten benutzerfreundlich über Nebenwirkungen und
Dosierung informieren. In der Praxis verunsicherten Fachbegriffe und
lange Listen von Nebenwirkungen aber nur, so die Kritik.

Wie sehen Packungsbeilagen in Zukunft aus?

Künftig müssen sie eine Faktenbox haben, die Kerninformationen wie
sichere Anwendung, Dosierung und Nebenwirkungen in einfachen Worten
zusammenfasst. Die Box muss grafisch oder farblich hervorgehoben
sein. Die Beipackzettel sollen zudem in allen offiziellen EU-Sprachen
verfügbar sein. Details arbeitet die EU noch aus.

Welche Lücken gibt es noch?

Kritiker bemängeln, dass Pharmakonzerne klinische Studien zu den
Nebenwirkungen von Medikamenten nicht immer veröffentlichen. «Das ist
das fehlende Glied», sagt der Arzt und EU-Abgeordnete Peter Liese
(CDU). Die EU-Kommission will das ändern und auch gegen die
Verlagerung solche Studien nach Asien, Südamerika oder Russland
vorgehen. Falls EU-Parlament und Mitgliedsstaaten zustimmen, könnten
diese Vorgaben dann 2016 in Kraft treten.