Brexit könnte deutsche Autobauer ausbremsen Von Roland Losch, dpa

21.06.2016 15:10

Großbritannien ist ein wichtiger Markt für die deutsche
Autoindustrie. Keine Branche würde stärker leiden, wenn am Ärmelkanal

Handelsschranken entstünden und das Land in die Rezession rutschte.
Aber die Hersteller plagt noch eine viel größere Sorge.

München (dpa) - Bei einem EU-Austritt der Briten beginnt für die
deutsche Autoindustrie eine gefährliche Wegstrecke. Auf der Insel
dürften in diesem Fall Umsätze in Milliardenhöhe wegbrechen. «Wir
sehen diese Branche dann in der Bredouille», sagt BayernLB-Volkswirt
Manuel Andersch. Vor allem BMW ist betroffen: Die Münchner verkaufen
nicht nur mehr Autos im Vereinigten Königreich als Audi und Mercedes,
sie haben auch noch vier Werke in England.

Das größte Risiko droht allerdings auf dem Kontinent. Ein Brexit
träfe die gesamte deutsche Exportwirtschaft, aber «die deutsche
Automobilindustrie an allererster Stelle», betont der Geschäftsführer

der britischen Handelskammer in Deutschland, Andreas
Meyer-Schwickerath. Jeder siebte Wagen aus einer deutschen Autofabrik
wird nach Großbritannien ausgeführt. Das Land ist nach China und den
USA der drittgrößte Auslandsmarkt für die deutsche Autoindustrie.

BMW hat in Großbritannien im vergangenen Jahr 236 000 Autos verkauft
- das waren mehr als 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Audi
waren es 9, bei Mercedes 8, beim VW-Konzern insgesamt 6 Prozent.

Für die deutsche Automobilindustrie sei das Vereinigte Königreich der
größte Exportmarkt, sagte der Präsident des Branchenverbands VDA,
Matthias Wissmann. «Der Wegfall des Binnenmarktes wäre gleichermaßen

für große und kleine Unternehmen eine spürbare Handelshürde. Denn s
ie
wären gezwungen, ihre Produkte an den jeweils anderen Markt
anzupassen und zusätzliche Zulassungsverfahren zu durchlaufen. Das
kostet Zeit und Geld.» Es bestünde die Gefahr, dass sowohl in der EU
als auch in Großbritannien die Nachfrage sinken und damit
Handelsströme und Wertschöpfung zurückgehen würden.

«Großbritannien ist für die Autohersteller ein interessanter,
lukrativer Markt, der stark gewachsen ist», sagt Gerhard Wolf, Chef
der Auto-Analysten bei der Landesbank Baden-Württemberg. Aber im
Brexit-Fall sehen die meisten Volkswirte Großbritannien in die
Rezession rutschen. «Das Pfund wird deutlich nach unten rauschen, um
10 bis 15 Prozent», sagt Andersch. Importe würden teurer.

Die Landesbank in Stuttgart macht folgende Rechnung auf: Die
Oberklasse-Hersteller verkaufen in Großbritannien 20 Prozent weniger
Autos. Ihre Gewinnmarge, die dort höher ist als in Frankreich oder
Italien, kommt massiv unter Druck. Und ihr Betriebsgewinn könnte um 4
bis 8 Prozent sinken, sagt Wolf. Ein Rückschlag, aber verkraftbar.

Der BMW-Konzern exportiert jedoch nicht nur Autos aus München,
Dingolfing und Regensburg nach England. Er baut dort auch jährlich
mehr als 200 000 Mini- und 4000 Rolls-Royce-Modelle.

Alle 68 Sekunden rollt im Werk Oxford ein Mini vom Band. Wenige Tage
vorher noch kann der Kunde seine Bestellung ändern, Farbe, Motor,
Ausstattungswünsche korrigieren. Die erforderlichen Teile werden
«Just in time» angeliefert - das spart Lagerkosten, erfordert aber
ein ausgeklügeltes und zuverlässiges Netzwerk von Zulieferern.

Die 350 Mini-Zulieferer sind über die ganze Welt verstreut, nicht
einmal die Hälfte der Bauteile stammt aus Großbritannien.
Unterschiedliche Standards, Handelsschranken, bürokratische
Verzögerungen und Zölle sind da ganz schlecht.

BMW produziert in England außerdem Bauteile für seine Stammmarke. Das
Karosseriewerk Swindon presst Bleche nicht nur für den Mini, sondern
auch für den 2er BMW, und das Motorenwerk Hams Hall bei Birmingham
liefert die Benzinmotoren für den BMW i8 nach Leipzig.

Die Werke in England seien für BMW «durchaus ein Vorteil», sagt Wolf.

Denn wenn das Pfund einbricht, werden zwar die Zulieferungen aus der
EU teurer - aber die örtlichen Produktionskosten sinken, und 80
Prozent der Minis werden in der EU für Euros verkauft. «Das
verschafft BMW einen kleinen Ausgleich», erklärt Wolf.

In einer ähnlichen Situation befindet sich die europäische
General-Motors-Tochter Opel mit ihrer britischen Schwestermarke
Vauxhall. Auf der Insel werden nicht nur viele Vauxhalls verkauft,
sondern auch viele Opels für den Kontinent gebaut, darunter das
wichtigste Modell Astra. Im vergangenen Jahr war Großbritannien mit
311 000 verkauften Wagen der größte GM-Markt in Europa.

Unter einer Abwertung des britischen Pfunds würde der Hersteller beim
Export zwar leiden, aber gleichzeitig auch profitieren und stünde
damit besser da als die auf den Kontinent begrenzte Konkurrenz.
Gleichwohl hofft man in Rüsselsheim, dass sich die Briten für einen
Verbleib entscheiden. «Vauxhall ist Teil eines vollständig
integrierten europäischen Unternehmens und profitiert von den
Möglichkeiten, die der freie Waren- und Personenverkehr in der EU
bietet. Für unser Geschäft und auch für den gesamten Automobilsektor

wäre es nicht wünschenswert, wenn das Vereinigte Königreich kein Teil

der EU wäre», erklärte ein Sprecher.

Ferdinand Dudenhöffer von der Uni Duisburg-Essen sagt, bei einem
Brexit «gibt es sicher kurzfristig Verwerfungen, aber es ist kein
Weltuntergang». In China würden 20 Millionen Autos jährlich verkauft,

in Großbritannien nur 2 Millionen. «Das löst kein Erdbeben aus, wenn

die Nachfrage runtergeht.» Auch NordLB-Analyst Frank Schwope glaubt:
«England wird nicht von der Welt abgeschnitten sein.» Er erwarte zwar
mehr Bürokratie und Kosten, aber keine Probleme in der Lieferkette.

BMW, Nissan-Peugeot, Toyota und der Verband der britischen
Autohersteller und -händler sind da weniger gelassen.
BMW-Vertriebschef Ian Robertson sagte, die Strategie seines
Unternehmens baue auf einen EU-Markt mit 500 Millionen Verbrauchern.
Rolls-Royce-Chef Torsten Müller-Ötvös warnte per Mitarbeiterbrief,
der Freihandel mit den EU-Ländern stehe bei einem Austritt infrage:
«Zollschranken würden höhere Kosten und höhere Preise bedeuten.»


Mit noch größerer Sorge sehen die Firmen aber den möglichen
Dominoeffekt. Der Firmenkundenvorstand der BayernLB, Michael Bücker,
sagt: «Wir werden einen Unsicherheitsschock sehen.» Die Finanzmärkte

könnten die Frage nach einem Referendum in Frankreich, nach der
Zukunft der EU und des Euros durchspielen und Turbulenzen auslösen.
Verunsicherte Unternehmer würden nicht mehr investieren. «Dann wird
das Wachstum zurückgehen, auch in der EU, auch in Deutschland.»

Das sieht man bei der Landesbank in Stuttgart ähnlich. «Solange der
Brexit keinen Flächenbrand in der EU auslöst, können die Unternehmen

damit umgehen», meint Wolf. «Aber wenn auch andere Länder über eine
n
Austritt nachdenken, sich die Unsicherheit ausbreitet, das Wachstum
in der EU einbricht - dann haben wir ein ganz anderes Szenario.»