AfD, Terror, Brexit: In was für Zeiten leben wir? Von Caroline Bock und Teresa Dapp, dpa
28.06.2016 05:00
Rückblickend sind es oft einzelne, herausragende Ereignisse, die das
Lebensgefühl einer Generation prägen. Die Schlagzeilen dieses Jahres
empfinden viele als beunruhigend. Mancher übt sich in Galgenhumor.
Berlin/London (dpa) - Der Rückblick für das Jahr 2016 ist eigentlich
schon im Juni voll. Die verheerende Silvesternacht von Köln, David
Bowie stirbt, der Terror in Brüssel, die Böhmermann-Affäre, der
Horror von Orlando. Die AfD und andere Rechtspopulisten sind auf dem
Vormarsch. Donald Trump will ins Weiße Haus einziehen. Die
Flüchtlingskrise ist noch lange nicht vorbei. Jetzt wollen auch noch
die Briten die EU verlassen. Wie werden die Geschichtsbücher wohl
einmal auf diese Zeit zurückblicken?
Was die Dramatik in der Entwicklung der deutschen Politik angeht,
fühlt sich der Historiker Paul Nolte an die Weimarer Republik der
20er und frühen 30er Jahre erinnert. «Völlig unabhängig vom Program
m,
das eine Partei vertritt, irritiert es einen Historiker, wenn eine
neue Formation aus dem Stand 24 Prozent der Stimmen erobert, wie die
AfD in Sachsen-Anhalt im März», sagte Nolte in einem
Zeitungsinterview. «Darin drückt sich eine quasi-revolutionäre Unruhe
aus.»
Der Philosoph Wolfram Eilenberger spricht von einer Zeitenwende und
ähnlichen Schlüsseljahren wie 1967/68 und 1989/1990. Damals ging es
um Freiheit und Mobilität. «Wir leben jetzt in einer Zeit der
Verengung», sagte Eilenberger der Deutschen Presse-Agentur. «Ich
denke schon, dass die politischen Konstellationen in Europa extrem
gefährdet sind.»
Neu ist für ihn: Rein wirtschaftliche Argumente reichen nicht mehr
aus, Wähler zu überzeugen, so wie es nach 1989 lange möglich war. Das
habe die Entscheidung für den Brexit gezeigt. «Wir sind jetzt in
einer Phase, in der kulturelle Identitätsfragen die Wirtschaftsfragen
trumpfen.» Das Schlagwort für die Geschichtsbücher?
«Renationalisierung», sagt Eilenberger. Die Rückkehr zum
Nationalstaat also.
Mauerfall und Brexit-Votum, diese Linie zieht auch Charles Grant,
Historiker und Direktor des Zentrums für europäische Reform. 1989
begann das Zusammenwachsen, jetzt kehrt sich die Entwicklung um. «Von
jetzt an wird von Zerfall gesprochen werden statt von
Zusammenwachsen», schreibt Grant.
Aber entsprechen diese Analysen dem Lebensgefühl aller? Für die
Jungen ist die Brexit-Entscheidung ein Schlag. Zehntausende Studenten
gehen jedes Jahr ins Ausland, die Generation Erasmus lebt in
internationalen WGs wie im Erfolgsfilm «L'auberge espagnole». Ihr ist
der Blick nach innen, die Kleinstaaterei, fremd. Catriona McArthur
(29), Schottin und Mitarbeiterin eines internationalen
Förderprogramms in London, ist nach dem Brexit-Votum verzweifelt:
«Noch nie haben ich mich so wenig britisch gefühlt.»
Turbulente Zeiten? Es passiere gerade nicht mehr als sonst, das sei
ein «Scheineindruck», sagt Eilenberger, der Chefredakteur des
«Philosophie Magazins». Die Nachrichtenlage 1914 sei beispielsweise
ähnlich dynamisch und verbittert gewesen. Auch der These von einer
neuen Hasskultur durch das Internet stimmt Eilenberger nicht ganz zu.
«Der Grad der Verbiesterung ist nicht höher, sondern präsenter
geworden.» Eine Hasskultur habe es schon immer gegeben. Sie sei nur
medial kontrolliert gewesen. «Der Stammtisch vor 30 Jahren war
ähnlich aggressiv und rassistisch wie heute Facebook.»
Auf die Schrecken und negativen Schwingungen kann man auch anders
blicken: «Comedy entsteht ja immer aus Leiden und aus Tragödie», sagt
der in London lebende deutsche Comedian Christian Schulte-Loh. Der
37-Jährige malt sich schon aus, wie es würde, falls Boris Johnson als
Premierminister auf einen US-Präsidenten namens Trump träfe: «Das
sieht dann wirklich aus wie zwei Bond-Bösewichte».
Auch der britischen Welt-Bestsellerautorin J.K. Rowling, die
unermüdlich für die EU geworben hat, ist der Humor nicht ganz
verloren gegangen. Über ihre Landsleute schreibt die
Harry-Potter-Erfinderin: «Es ist, wie mit dem Hochzeitsgast verwandt
zu sein, der auf die Torte gekotzt hat. Es tut uns wirklich leid.»