Brexit: Britische Arbeitgeber fürchten um polnische Arbeitskräfte Von Silvia Kusidlo, dpa

19.12.2016 07:00

Piroggen im Supermarkt, osteuropäische Tänze im Kulturzentrum: Viele
Polen fühlen sich in Großbritannien fast wie zu Hause. Doch der
geplante Brexit könnte sie um Lohn und Brot bringen. Welche
Auswirkungen wird das für die britische Wirtschaft haben?

London (dpa) - Zimmermädchen, Erntehelfer, Busfahrer - viele schlecht
bezahlte Jobs in Großbritannien werden von Polen erledigt. Als
Arbeitskräfte lange heiß begehrt, haben viele Osteuropäer ein halbes

Jahr nach dem Brexit-Votum nun Existenzängste. Sie sei unsicher, wie
es weitergehe, sagt etwa eine junge Kellnerin, die seit drei Jahren
in London lebt. Fremdenfeindliche Angriffe fachen die Ängste noch an.

Nach dem EU-Beitritt ihres Landes 2004 wanderten zahlreiche Polen
aus. Besonders begehrt war - neben Schweden und Irland -
Großbritannien. Denn diese Länder öffneten als erste den Arbeitsmarkt

für Neuankömmlinge aus dem Osten - im Gegensatz zu Deutschland, das
erst Jahre später die sogenannte Arbeitnehmerfreizügigkeit zuließ.
Viele Polen sparten ihr Geld und kehrten irgendwann wieder in ihre
Heimat zurück. Andere blieben und holten ihre Familien nach, etliche
machten sich sogar selbstständig.

Mehr als 850 000 Polen leben Schätzungen zufolge zurzeit in
Großbritannien; damit sind sie die größte Gruppe der EU-Ausländer.

Brexit-Befürworter fürchten Risiken durch eine unkontrollierte
Einwanderung. Sie werfen den Fremden die wachsende Wohnungsnot, das
überlastete Gesundheitssystem und Mangel an Arbeitsplätzen vor.
Brexit-Gegner fürchten dagegen erhebliche Folgen für die Wirtschaft
bei einem Austritt aus der EU, etwa in Hotels und Restaurants.

«Die Konsequenzen könnten fatal sein», warnt Ufi Ibrahim von der
British Hospitality Association. Etwa 15 Prozent der Angestellten,
die in Hotels und im sonstigen Tourismusbereich arbeiten, kommen nach
ihren Angaben aus einem anderen EU-Land. Diese 700 000 Arbeitskräfte
seien nicht einfach so durch Briten zu ersetzen, wiederholt die
Expertin des Fachverbandes gebetsmühlenartig in Interviews. Steigende
Löhne und ein schwächelndes Pfund könnten der Wirtschaft schaden.

Die Bauindustrie fürchtet um ihre Maurer, und Altersheime bangen um
ihre Pfleger, falls billigen Arbeitskräften vor allem aus Osteuropa
der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt werden sollte. Die Diskussion
über den Brexit habe schon erste Erntehelfer aus dem Ausland
abgeschreckt, berichten Landwirte. «Briten übernehmen solche Arbeiten
nicht, weil es sich um Saison-Arbeit in ländlichen Regionen handelt,
die nur schwer zu erreichen sind. Du arbeitest bei jedem Wetter
(...), und Saison-Arbeit bedeutet, dass du von Farm zu Farm ziehen
musst», sagte Ali Capper vom Nationalen Verband der Landwirte
(National Farmers' Union) unlängst der Zeitung «The Guardian». Capper

baut Äpfel und Hopfen an.

Wie vertrackt die Lage ist, zeigt die mittelenglische Stadt Corby.
Ein Stahlwerk zog einst viele Schotten an und ließ den Ort wachsen,
der den Spitznamen «Klein-Schottland» verpasst bekam. Inzwischen sind
die Hochöfen erloschen. Heute haben in Corby viele Osteuropäer
Billig-Jobs vor allem in der Nahrungsmittelindustrie. «Wenn jeder aus
Polen aufstehen und gehen würde, dann wäre das verheerend», sagte
Catherine Slevin vom Personalvermittler Velocity Recruitment
Solutions der «Financial Times». Ihre Versuche, britische
Arbeitnehmer zu rekrutieren, seien oft fehlgeschlagen. Doch vielen
Zugezogenen aus Schottland sind die Polen ein Dorn im Auge: Sie
lasten ihnen Engpässe im Gesundheitswesen und bei Schulplätzen an.

Auch anderswo knirscht es mächtig. Schon kurz nach dem Brexit-Votum
fanden sich in mehreren Städten rassistische Schmierereien, auch am
polnischen Kulturzentrum Posk in London. «Das passierte aber nur
einmal, und wir haben daraufhin Tausende Postkarten bekommen. Die
Solidarität war sehr beeindruckend», berichtet der Pressesprecher des
Kulturzentrums, Tomasz Furmanek. Hat er Angst vor den Folgen des
Brexits? «Nein, Angst müssen wohl eher die Briten haben», sagt
Furmanek mit Blick auf mögliche wirtschaftliche Folgen.

Viele halten es für unwahrscheinlich, dass London nach einem Brexit
eine Massenausweisung betreiben wird. Doch die Anträge von Polen auf
Einbürgerung in Großbritannien nahmen im Sommer sprunghaft zu, obwohl
die «Leave-Kampagne» Stimmungen gegen Migranten geschürt hatte. Die
Zahl der fremdenfeindlichen Übergriffe stieg an; ein Pole wurde sogar
im südostenglischen Harlow getötet. Auch im Internet ging es teils
hoch her. «Keine weiteren polnischen Parasiten», schimpften die
einen. «Die Briten sind doch viel zu faul zum Arbeiten» und seien
«unmenschlicher Abschaum», so lauteten Reaktionen der anderen.