Balkanroute seit einem Jahr dicht - Hält das Abkommen mit Ankara? Von Takis Tsafos, dpa

20.03.2017 14:14

Ein Jahr nach Schließung der Balkanroute und Inkrafttreten des
EU-Türkei-Flüchtlingspaktes sitzen in Griechenland noch immer
Zehntausende Menschen fest. Drohungen aus der Türkei werden lauter.
Und Schleuser sind weiter am Werk.

Athen (dpa) - Ist die Migrationskrise in der Ägäis vorbei? «Das
Problem ist noch lange nicht überwunden», sagt ein erfahrener
Offizier der griechischen Küstenwache. Er hat lange auf einer der
größten Ostägäis-Inseln gearbeitet und schlimme Szenen erlebt. «W
er
tote Kinder gesehen hat, der kann nachts nicht schlafen», sagt er.

Wie aber ist die Lage heute? Berge weggeworfener Schwimmwesten
erinnern auf Lesbos an die vielen Menschen, die bis vor einem Jahr
über die Ägäis kamen. Nach der Sperrung der Balkanroute und dem
Inkrafttreten des EU-Türkei-Flüchtlingspaktes ist der Zustrom aus der
Türkei über Griechenland nach Mitteleuropa deutlich zurückgegangen.
Niemand jedoch wagt vorauszusagen, was passiert, wenn der
Flüchtlingspakt aufgekündigt wird.

Die Fakten: Im Januar und Februar 2016 kamen knapp 124 500 Migranten
und Flüchtlinge aus der Türkei nach Griechenland und reisten danach
nach Mitteleuropa weiter. Anfang März 2016 wurde die Balkanroute
durch Mazedonien nach und nach mit Zäunen, Wachhunden und Polizisten
mit dem Schlagstock in der Hand geschlossen. Ein Jahr später - im
Januar und Februar 2017 - setzten gerade einmal 2379 Migranten und
Flüchtlinge aus der Türkei zu den griechischen Inseln über.

Bedeutend zu diesem schlagartigen Rückgang hat auch das seit April
2016 geltende Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei beigetragen.
Wer seitdem aus der Türkei zu den griechischen Inseln übersetzt, kann

zurückgeschickt werden, wenn kein Asyl gewährt wird.   

In den vergangenen Wochen hat sich das Verhältnis zwischen Europa und
der Türkei allerdings dramatisch verschlechtert - und neue Spannungen
sind in Sicht: Als Reaktion auf die jüngsten Streitigkeiten rund
um Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Westeuropa droht die
Türkei damit, den Flüchtlingspakt mit der EU nicht mehr einzuhalten.

Auffällig gestiegen ist in den vergangenen Tagen die Zahl der
Menschen, die in Booten aus der Türkei die griechischen Ägäis-Inseln

erreichten. Von Freitagmorgen bis Montagmorgen waren es nach Angaben
des Flüchtlingskrisenstabs in Athen 443 Migranten - deutlich mehr als
in den Tagen zuvor. Den Anstieg führen Kreise der griechischen
Küstenwache auf das gute Wetter zurück, das dort zurzeit herrscht.
«Erfreulich ist, dass kaum noch Menschen in der Ägäis ums Leben
kommen», sagen immer wieder Beamte der Küstenwache.  

Schleuser machen weiterhin gute Geschäfte: Schlepper versprechen den
rund 62 500 Migranten, die in Griechenland festsitzen, sie über
«geheime Wege» ihrem Ziel- Mitteleuropa- näher zu bringen. Ein Teil
der Migranten wird über die Teile der mazedonischen Grenze
weiterbefördert, die nicht durch einen Zaun gesichert sind.

Ein anderer Teil nimmt die alte Migrationsroute nach Italien: Aus den
westgriechischen Häfen von Patras und Igoumenitsa laufen täglich
mehrere Fähren zu den italienischen Häfen Brindisi, Bari, Ancona,
Venedig und Triest aus. Migranten versuchen, unbeobachtet oder in
Lastwagen versteckt auf eine dieser Fähren zu gelangen.

Die Asylverfahren in Griechenland ziehen sich wegen Personalmangels
in die Länge. Bisher hat die EU nur einen Bruchteil der versprochenen
rund 400 Asylrichter geschickt. Das Ergebnis: Streitigkeiten,
Schlägereien und Randale in und um die sogenannten Hotspots, die
Registrierzentren der Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und
Kos. Migrationsminister Ioannis Mouzalas räumte vor wenigen Tagen im
griechischen Parlament ein anderes Problem ein: Es gebe zahlreiche
Migranten, die auf den Inseln untertauchen. «Wir finden sie nicht»,
sagte er. Wie viele es sind, sei unklar.

Was diese verzweifelten Menschen machen? Sie versuchen auf eine der
Fähren nach Piräus zu kommen. Kürzlich hielt ein junger aus Ägypt
en
stammender Migrant die Menschen im Hafen der Insel Lesbos in Atem. Er
versuchte, sich über eine Festmacherleine auf die Fähre «Ariandi»
zu
hangeln, die nach Piräus auslaufen sollte. Der Mann lief Gefahr, aus
einer Höhe von 20 Metern in die Tiefe zu fallen. Schließlich wurde er
mit Hilfe einer Strickleiter gerettet und wieder in ein
Flüchtlingslager gebracht.

Rassistische Überfälle mit hunderten Brandstiftungen wie in
Mitteleuropa hat es in Griechenland kaum gegeben. Hier und dort
protestieren Rechtsextremisten gegen die «Migrationswelle», sagt ein
Polizeisprecher. Auf den Inseln kommt es öfters zu Streitigkeiten
zwischen Migranten und der Lokalbevölkerung. Mindestens drei
Migranten starben während einer Kältewelle im Januar 2017. Auf Lesbos
werden zunehmend Fälle von Prostitution registriert, berichten
Einwohner der Inselhauptstadt Mytilini.   

Diplomaten sprechen in Athen von einer Zwischenlösung. Das Problem
Flüchtlingszustrom könne nur dann gelöst werden, wenn Frieden im
Nahen Osten herrscht. Und davon sei man noch weit entfernt.