Westerngrund - die Noch-Mitte der Europäischen Union Von Christiane Gläser, dpa
04.04.2017 11:08
Die Mitte der Europäischen Union war schon in vielen Orten. Derzeit
ist sie im nordwestlichen Zipfel Bayerns. Mit dem Brexit wird sie
weiter wandern - aber in Bayern bleiben.
Westerngrund (dpa) - Die EU-Fahne flattert im Wind, Vögel zwitschern
in den Bäumen, ein Traktor fährt einsam über das weite Feld. Es ist
ruhig und beschaulich am Mittelpunkt der Europäischen Union. Ab und
an halten Autofahrer für eine Stippvisite an. Wanderer machen kurz
Rast. Viele Gäste finden den Ort im unterfränkischen Westerngrund
eher zufällig. Dort herrscht ein bisschen Abschiedsstimmung: Die
Region wird den geografischen Mittelpunkt in zwei Jahren, wenn
Großbritannien die EU verlässt, verlieren.
Wie viele Menschen das Fleckchen Erde seit 2013 besucht haben, ist
unklar. Die Bürgermeisterin von Westerngrund, Brigitte Heim, schätzt
nach einer Auswertung von mittlerweile acht Gästebüchern, dass es bis
zu 10 000 Besucher gewesen sein könnten.
Dank einer Handvoll enthusiastischer EU-Liebhaber wird der
EU-Mittelpunkt ehrenamtlich gehegt und gepflegt. Steine säumen den
eigens angelegten Kiesweg, der Platzwart hat blau-gelbe Blümchen
gepflanzt, Tafeln informieren über die EU und den
EU-Mittelpunkte-Wanderweg, zwei Bänke und ein Tisch runden das
Ensemble ab. «Der EU-Mittelpunkt liegt für uns sehr perfekt auf einer
kleinen Anhöhe mitten auf Gemeindegrund. Besser hätte man das gar
nicht treffen können», sagt Christopher Mehl, der die Region im
Kahlgrund mit ihren zehn Gemeinden nach außen vertritt.
Eine Statistik zu den Übernachtungszahlen gibt es nicht. Deshalb ist
es auch schwer zu sagen, ob der Tourismus dadurch angekurbelt wurde.
Laut Mehl profitiert die Region unweit von Frankfurt am Main vor
allem von Tagesgästen. Viele kämen zum Wandern in die idyllische
Ruhe.
Doch nicht wenige reisen auch eigens für den Aussichtspunkt an. «Ich
musste diesen Punkt mal sehen, bevor Großbritannien aus der EU raus
ist und der Mittelpunkt sich wieder verschiebt», schrieb ein Besucher
in das wasserdicht verpackte Gästebuch. Auch Schulklassen und Vereine
steuern die Koordinaten 9 Grad 15 Minuten östlicher Länge, 50 Grad 7
Minuten nordlicher Breite gezielt an. Fünf Fahnen wehen hier: neben
der EU-Fahne auch die von Deutschland, Bayern, Franken und Kahlgrund.
Wie wertvoll ist der Stempel «Mittelpunkt der EU» für die Region? Am
Anfang waren viele hoffnungsvoll. Der Bäcker in Westerngrund kreierte
eigens ein EU-Mittelpunkts-Brot. Metzger mischten besondere
Gewürzmischungen für EU-Bratwürste, es wurde ein EU-Mittelpunkts-Bier
gebraut und die Brennerei machte einen EU-Schnaps. Auch ein
Info-Schild an der Autobahn 3 sollte aufgestellt werden. Doch das war
zu teuer. Rund 14 000 Euro sollte das kosten. «Es war klar, dass das
Schild nicht dauerhaft da stehen wird. Das wäre Verschwendung von
Steuergeldern geworden», begründet Mehl die Entscheidung.
Nach der Anfangseuphorie ist es nun ruhiger geworden. Hier und da
beziehen sich Gaststätten und Cafés noch auf das momentane
Alleinstellungsmerkmal. Auf der Internetseite und den Prospekten der
umliegenden Gemeinden ist die EU-Flagge natürlich immer zu finden.
Geblieben sind auch der Schnaps, Führungen in die Mitte Europas und
EU-Mittelpunkts-Gebete. Die nächste Mittelpunkts-Messe ist Mitte Mai.
Der Verlust des Mittelpunktes sei traurig, aber davon gehe die Welt
nicht unter, so Bürgermeisterin Heim. «Der Mittelpunkt ist immer ein
Geschenk auf Zeit. Und so haben wir ihn auch aufgenommen.» Etwas
Besonderes bleibe Westerngrund in der Geschichte der EU-Mittelpunkte
so oder so: «Wir hatten den Mittelpunkt nicht nur gleich an zwei
Orten in der Gemeinde. Wir sind - und bleiben hoffentlich auch - der
einzige Ort, der ihn verloren hat, weil ein Land die EU verlassen
hat.»
Die kleine Anhöhe mit EU-Flair soll weiter gepflegt werden und
natürlich Teil des eigens für die Region entwickelten EU-Wanderweges
bleiben. Der wird die Wanderer von März 2019 an in Richtung Würzburg
weiterführen. Voraussichtlich nach Gadheim, einen Ortsteil von
Veitshöchheim. Bayerns Heimatminister Markus Söder (CSU) freut sich:
«Bayern bleibt der Mittelpunkt Europas auch nach dem Brexit.»
Der dortige Bürgermeister, Jürgen Götz, war zunächst einmal sehr
überrascht, als er von lokalen Medien von der möglichen neuen Ehre
erfuhr. Mittlerweile weht auf dem Gadheimer Dorfplatz die EU-Fahne.
Der exakte Ort liegt voraussichtlich mitten in einem Acker.
Veitshöchheim, der kleine Ort mit dem schwer auszusprechenden Namen
vor den Toren Würzburgs, ist vor allem für seinen Rokoko-Garten und
die Fernsehsendung «Fastnacht in Franken» bekannt. Götz: «Aber
vielleicht können dank des EU-Mittelpunktes bald noch mehr Menschen
unseren Ortsnamen unfallfrei aussprechen.»