Kaum Arbeitslosigkeit in Tschechien: Der böhmische Tiger boomt Von Michael Heitmann, dpa
03.07.2017 13:45
Vom Sorgenkind der postsozialistischen Transformation zum
Musterknaben: Im Boomland Tschechien herrscht fast Vollbeschäftigung.
Immer mehr Firmen suchen händeringend nach Fachkräften - eine Chance
für manchen Deutschen.
Prag (dpa) - Die Maschinen laufen Tag und Nacht ohne Unterbrechung:
Bei der Firma GZ Media in der Nähe von Prag werden Schallplatten für
einen wieder wachsenden Markt von Vinyl-Enthusiasten gepresst. Wie
hier boomt das Geschäft in vielen tschechischen Betrieben. Doch es
gibt auch eine Schattenseite: «Das Hauptproblem für uns und andere
Firmen in der Region ist der Mangel sowohl an qualifizierten wie an
unqualifizierten Arbeitskräften», sagt Vertriebs- und
Marketingmanager Michal Nemec.
Tatsächlich liegt die Arbeitslosenquote im Prager Speckgürtel, in der
sich das Platten-Presswerk befindet, bei nur 3,4 Prozent. In der
Hauptstadt selbst herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Als die
Statistikbehörde Eurostat am Montag ihre neuesten Zahlen präsentiert,
ist Tschechien wieder das Land, das unter allen EU-Staaten bei der
Arbeitslosigkeit am besten abschneidet. Im Mai waren es nach den
Berechnungsmethoden von Eurostat nur 3,0 Prozent - beim Schlusslicht
Griechenland mit Stand März hingegen 22,5 Prozent.
Bei GZ Media geht man viele Wege: «Wir stellen Ausländer ein, bieten
neue Sozialleistungen, probieren neue Anzeigenkanäle aus, arbeiten
mit Schulen zusammen und beschleunigen das Auswahlverfahren»,
berichtet Nemec. Vor drei Jahren öffnete die Firma ein neues
Zweigwerk für Verpackungswaren - im Süden Tschechiens, weit weg vom
Stammbetrieb: Dort freute man sich im Rathaus und beim Arbeitsamt
über den neuen Arbeitgeber.
Während jahrelang über die Slowakei als neuem Wirtschaftstiger
Mitteleuropas gesprochen wurde, blieb der Boom in Tschechien eher
unbemerkt. Bernard Bauer, Geschäftsführer der Deutsch-Tschechischen
Industrie- und Handelskammer, bringt es auf den Punkt: «Deutschland
geht es gut, heißt: Tschechien geht es gut», sagt er. «Kurze Wege,
ähnliche Industrie- und Warenstrukturen - Wachstumstreiber sind vor
allem Automotive und Maschinenbau -, all das macht deutsche
Investitionen in Tschechien so interessant.»
Im vorigen Jahr lief die Rekordzahl von 1,3 Millionen Autos vom Band.
Doch Tschechien will - und kann - mehr sein als nur die verlängerte
Werkbank des Westens. «Immer mehr internationale Konzerne bauen in
Tschechien Entwicklungsabteilungen auf, vor allem auch im digitalen
Bereich», sagt Bauer. In Prag gibt es eine lebendige IT-Gründerszene,
die etwa Handy-Apps für den Weltmarkt produziert.
Dennoch mahnt Ministerpräsident Bohuslav Sobotka, dass der Wandel
nicht schnell genug vorangeht. Bei der Förderung ausländischer
Investitionen müsse mehr auf Innovationen geachtet werden, fordert
der Sozialdemokrat. Sein Lieblings-Schlagwort lautet Industrie 4.0 -
die Digitalisierung der Produktion.
Während täglich knapp 16 000 Tschechen zu ihrem Arbeitsplatz nach
Bayern pendeln, nehmen inzwischen immerhin 1800 Deutsche den
umgekehrten Weg - und helfen damit, den dortigen Fachkräftemangel
abzufedern. Das geht aus Zahlen der Bundesagentur für Arbeit hervor.
Grenzüberschreitende Beschäftigung sei zur Normalität geworden, teilt
Manfred Stamm mit, der für die Behörde die bayerisch-tschechischen
Arbeitsmarktaktivitäten leitet.
Wie dramatisch ist der Fachkräftemangel wirklich? «Die meisten
Mitgliedsunternehmen haben immer größere Probleme, qualifizierte
Mitarbeiter zu finden», warnt Handelskammer-Chef Bauer. Es sei schon
so weit gekommen, dass neue Aufträge abgelehnt werden müssten. «Und
das ist eine heftige Wachstumsbremse, die kein Land als gegeben
akzeptieren sollte.» Umfragen zeigen, dass weite Teile der
Bevölkerung Zuwanderung als Lösung ablehnen: Nur 12 Prozent sehen
einen positiven Nutzen, im EU-Schnitt sind es 44 Prozent.
Seit Jahren wirbt Bauer für die Einführung des dualen
Ausbildungssystems - bisher vergeblich. Eine Lehre wie in Deutschland
mit viel Praxisanteilen gibt es in Tschechien nicht, wohl aber seit
2015 in der benachbarten Slowakei. «Der politische Wille, ein duales
System aufzubauen, ist kaum vorhanden», bedauert Bauer. Angesichts
der geringen Jugendarbeitslosigkeit fehle schlicht der
Handlungsdruck. Bei der Schallplattenfabrik, einer der weltweit
größten, sagt man: «Wir würden das begrüßen.»