EU-Kommission nimmt deutsche Autokonzerne unter die Lupe Von Roland Losch und Thomas Strünkelnberg, dpa

24.07.2017 18:15

Haben die deutschen Autobauer jahrzehntelang heimlich Absprachen
getroffen? Die Börse nimmt den Kartellverdacht ernst, die Kurse
sinken. Die Wettbewerbshüter in Brüssel sollen jetzt Licht in die
Sache bringen.

Berlin (dpa) - Nach den Kartellvorwürfen gegen die deutsche
Autoindustrie übernehmen die Wettbewerbshüter der EU-Kommission die
Federführung bei der Aufklärung. Das teilte das
Bundeswirtschaftsministerium am Montag mit. Die Untersuchung sei aber
komplex und langwierig. «Wenn die EU-Kommission einen begründeten
Verdacht entwickelt, schickt sie den Unternehmen die konkreten
Vorwürfe zu», sagte ein Sprecher in Brüssel. Der Verband der
Automobilindustrie (VDA) warnte vor Vorverurteilungen.

Der weltweit größte Autobauer Volkswagen rief seine Aufsichtsräte zu

einer Sondersitzung am Mittwoch zusammen. Das Bundeskartellamt
erklärte, es führe kein Verfahren. Aber es lägen «Informationen»
zu
möglichen Absprachen im technischen Bereich vor. Auch die
EU-Kommission habe Einblick.

Die Autobranche steht bereits wegen der VW-Abgasaffäre und zu hoher
Diesel-Emissionen unter Druck - bei den nun in Rede stehenden
Kartellverstößen könnten ihnen Milliardenstrafen drohen. Das
belastete die Aktienkurse: VW, Daimler und BMW verloren am Montag
erneut zwischen ein und drei Prozent - ähnlich wie schon nach
Veröffentlichung der Vorwürfe am Freitag.

Der «Spiegel» hatte über ein seit mehr als 20 Jahren bestehendes
Kartell deutscher Autobauer berichtet. Vertreter von VW, Audi,
Porsche, BMW und Daimler hätten sich über Fahrzeuge, Kosten,
Zulieferer und auch die Reinigung von Diesel-Abgasen abgesprochen.
Danach sollen sie sich auch verständigt haben, kleinere, billigere
Tanks für Harnstoff (AdBlue) einzubauen, der gefährliche Stickoxide
in die harmlosen Bestandteile Wasser und Stickstoff aufspaltet. Vor
einem Jahr sollen der Volkswagen-Konzern und Daimler Selbstanzeigen
bei den Wettbewerbsbehörden erstattet haben.

Das Bundeskartellamt hatte just vor einem Jahr mehrere Autohersteller
und Zulieferer wegen möglicher Absprachen beim Einkauf von Stahl
durchsucht. Hierzu laufe ein Verfahren, teilte es in Bonn mit.

Die stellvertretende Geschäftsführerin von Transparency International
Deutschland, Sylvia Schwab, sagte der Deutschen Presse-Agentur:
«Grundsätzlich ist es ja üblich, dass sich Unternehmen in Verbänden

zusammensetzen und gemeinsame Interessen und Vorhaben besprechen.»
Problematisch werde es erst, wenn das den technischen Fortschritt
behindere, nicht fair und transparent zugehe und den Kunden schade.

Laut VDA prüfen die Behörden jetzt, «ob und in welchem Umfang die
Abstimmung zwischen den Herstellern rechtlich zulässig war oder
nicht». Schon das Ausnutzen von Grauzonen wäre inakzeptabel. Aber
«der Stand des Verfahrens legt es gleichzeitig nahe, mit
Vorverurteilungen zurückhaltend umzugehen. Standardisierungs- und
Normierungsaktivitäten sind pauschal weder schädlich noch illegal.»
Vor einigen Monaten hätten die Autokonzerne den Verband gebeten,
«Entwicklungs-, Normungs- und Standardisierungsthemen in den VDA zu
integrieren», um «bisherige herstellereigene Strukturen aufzulösen»
.

IG-Metall-Chef Jörg Hofmann forderte «eine vollumfängliche Aufkläru
ng
der Vorgänge. Klar ist, dass das deutsche und europäische
Kartellrecht nicht verletzt werden darf und Absprachen zu Lasten von
Verbrauchern sowie des Klima- und Umweltschutzes völlig inakzeptabel
wären», sagte der Gewerkschaftschef, der auch Mitglied des
Volkswagen-Aufsichtsrats ist, der «Welt» (Montag).

Unionsfraktionschef Volker Kauder rief die Autokonzerne auf, «reinen
Tisch» zu machen. Sollten sich die Kartellverstöße bewahrheiten,
wofür vieles spreche, «muss man schon den klaren Satz sagen: Recht
und Gesetz gelten auch für die Auto-Industrie», sagte der
CDU-Politiker im ARD-«Morgenmagazin». Sowohl Wirtschafts- als auch
Verkehrsministerium gaben an, erst am Freitag aus den Medien von dem
Thema erfahren zu haben.

Daimler hatte von «Spekulationen», VW-Chef Matthias Müller in der
«Rheinischen Post» von «Sachverhaltsvermutungen» gesprochen. BMW
äußerte sich nicht zum Kartellvorwurf, stellte aber klar: «Den
Vorwurf, dass aufgrund zu kleiner AdBlue-Behälter eine nicht
ausreichende Abgasreinigung in Euro-6-Diesel-Fahrzeugen der BMW Group
erfolgt, weist das Unternehmen entschieden zurück.»

Der BMW-Betriebsrat erklärte am Montag, er gehe davon aus, dass sich
das Management bei allen Entscheidungen an Recht und Gesetz gehalten
habe. Der Betriebsrat erwarte umfassende Information. Auch die
Betriebsräte von Daimler und des VW-Konzerns forderten Aufklärung.
«Arbeitsplätze dürfen nicht durch kartellwidriges Verhalten riskiert

werden», sagte Daimler-Gesamtbetriebsratschef Michael Brecht.

Deutschlands oberster Verbraucherschützer Klaus Müller rechnet wegen
des möglichen Auto-Kartells mit einer Klagewelle. Zehntausende
Autokäufer könnten Schadenersatz für überteuerte Fahrzeuge verlange
n,
wenn sie wegen Absprachen der Hersteller zu viel für ihre Fahrzeuge
gezahlt hätten, sagte der Chef des Bundesverbands der
Verbraucherzentralen der «Süddeutschen Zeitung» (Montag).

Die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) erwägt
bereits Klagen gegen die Autokonzerne wegen möglicher Verstöße gegen

Ad-hoc-Pflichten. Die Finanzaufsicht (Bafin) teilte mit: «Wir schauen
uns den Sachverhalt derzeit an und entscheiden dann, wie wir weiter
verfahren.»