Anfeindungen und Geldnot - Europas Menschenrechtsgericht in Gefahr? Von Violetta Kuhn, dpa
24.05.2018 07:28
Folter, Enteignung oder katastrophale Haftbedingungen: Wenn ein Staat
die Menschenrechte seiner Bürger verletzt, können sich diese an den
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden. Noch. Denn
Experten sehen das Gericht bedroht.
Straßburg (dpa) - Er ist oft die letzte Hoffnung für Menschen, die
gefoltert wurden, zu Unrecht in Haft sitzen oder auf andere Weise in
ihren Grundrechten verletzt wurden: der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte (EGMR). Doch dieses Gericht in Straßburg steht auf
zunehmend wackligen Beinen und kann oft erst spät helfen. «Der EGMR
ist in großer Gefahr, vielleicht mehr denn je», sagt Maria Scharlau,
Menschenrechtsexpertin bei Amnesty International.
Zu kämpfen hat der EGMR an mehreren Fronten: mit sich selbst, mit
seiner Geldnot, mit starren Verfahrensregeln und mit Staaten, die
zunehmend seine Autorität in Frage stellen.
Da ist zum einen die Riesenlast an Alt-Fällen, die beim Gericht auf
ihre Bearbeitung warten: 56 000 waren es zuletzt. Oft fallen Urteile
- auch wegen der Überlastung - erst viele Jahre nach der Klage. Ein
Beispiel: Am Donnerstag zum Beispiel wollte das Gericht
Entscheidungen zu Beschwerden unter anderem aus den Jahren 2008 und
2011 verkünden.
Beschwerdeführer, denen zum Teil Schreckliches widerfahren ist,
müssen also oft lange warten, bis ihnen späte Gerechtigkeit zu Teil
wird - meist in Form von Entschädigungszahlungen. «Der EGMR krankt an
seinem eigenen Erfolg», sagt Menschenrechtsanwalt Roland Giebenrath,
der nach eigenen Angaben schon 150 bis 200 Beschwerdeführer vor dem
Straßburger Gericht vertreten hat. Allein im vergangenen Jahr gingen
mehr als 60 000 Beschwerden bei dem Gericht ein.
Dabei habe die Verfahrensdauer in den vergangenen Jahren bereits
erfreulich abgenommen, betont Giebenrath. Das Gericht habe sich
diverse Reformen verordnet, um der Beschwerde-Flut Herr zu werden.
«Diese Reformen haben sicherlich teilweise gegriffen, reichen aber
nicht aus.»
Ein Problem bleibt dem Anwalt zufolge zudem das «verschwindend
geringe» Budget. Gerade einmal knapp 72 Millionen Euro stehen dem
EGMR im ganzen Jahr 2018 zur Verfügung - etwa so viel hat die
deutsche Bundesregierung allein für den G20-Gipfel in Hamburg
ausgegeben.
Auch um die Zukunft der EGMR-Finanzen ist es nicht gerade rosig
bestellt, gehört das Gericht doch zum Europarat, der selbst gerade
mit Geldsorgen kämpft. Russland fror zuletzt seine Beitragszahlungen
für die Straßburger Staatenorganisation mit ihren insgesamt 47
Mitgliedstaaten ein. Auch die Türkei droht damit, ihre Zahlungen zu
kürzen.
«Anscheinend wollen viele Mitgliedstaaten des Europarates gar nicht,
dass der EGMR effizienter wird, und verweigern daher eine bessere
finanzielle Ausstattung», sagt Anwalt Giebenrath. Der EGMR brauche
zwei- bis dreimal so viel Geld und viel mehr juristische Mitarbeiter,
um die angehäuften Fälle abarbeiten zu können.
Gerade in der Türkei sehen Menschen im EGMR oft ihre einzige Chance
auf Gerechtigkeit. Seit dem gescheiterten Putschversuch im Sommer
2016 wurden in dem Land Zehntausende Menschen inhaftiert. Mehr als 30
000 Menschen - oft Richter und Journalisten - wandten sich nach dem
Putschversuch an das Straßburger Gericht, darunter auch der
«Welt»-Journalist Deniz Yücel.
Doch die allermeisten scheiterten. Das Gericht wies im vergangenen
Jahr mehr als 27 000 Beschwerden gegen die Türkei als unzulässig ab -
mit der Begründung, dass sich die Beschwerdeführer in der Türkei noch
nicht durch alle Instanzen geklagt hätten. Das ist eine
Grundvoraussetzung dafür, dass sich das Straßburger Gericht mit einem
Fall beschäftigt.
Die Frage drängt sich allerdings auf, ob die Türkei überhaupt noch
über ein funktionierendes Rechtssystem verfügt. Zuletzt hatten sich
zum Beispiel untergeordnete Gerichte geweigert, Urteile des
türkischen Verfassungsgerichts umzusetzen.
Zu späte Urteile und abgewiesene Klagen - hilft der EGMR also kaum
jemandem mehr? Die Menschenrechtsexpertin Scharlau widerspricht da
entschieden. «Seine Urteile haben schon wirklich oft einen großen
Unterschied gemacht», betont sie.
So musste Deutschland zum Beispiel sein System zur
Sicherungsverwahrung von Straftätern nachbessern. Auch wurde
Deutschland für die Praxis gerügt, Verdächtigen Brechmittel zu
verabreichen, um an verschluckte Drogenpäckchen zu gelangen.
Und für die Beschwerdeführer machten auch späte Urteile «einen
Riesenunterschied», sagt Scharlau. Da gehe es einfach um die
Anerkennung von erlittenem Unrecht. «Der Mehrwert durch den
Gerichtshof ist enorm.» Umso besorgter sei sie über EGMR-feindliche
Strömungen in gleich mehreren Ländern.
In der Schweiz will eine Volksinitiative die nationalen Gesetze über
das Völkerrecht stellen - und damit den EGMR entscheidend schwächen.
Großbritanniens Premierministerin Theresa May sagte im Sommer 2017,
wenn Menschenrechte den Kampf gegen Terror behinderten, müssten die
Gesetze eben geändert werden. Aserbaidschan weigert sich seit Jahren,
ein Urteil des EGMR umzusetzen und den Oppositionsführer Ilgar
Mammadov freizulassen.
Natürlich wisse man bei Amnesty International um die Defizite des
Gerichts, sagt Maria Scharlau. Aber er sei immer noch ein Bollwerk im
Schutz der Menschenrechte. «Der EGMR ist nicht wegzudenken.»