Georgiens vergessene Kriegsflüchtlinge Von Claudia Thaler und Sopho Aptsiauri , dpa
06.08.2018 07:29
Georgien entwickelt sich zu einem angesagten Reiseland. Doch unweit
der hippen Hauptstadt Tiflis reiht sich ein Flüchtlingsdorf ans
nächste. Die Bewohner denken seit Jahren sehnsüchtig an ihre alte
Heimat hinter einer nahen Grenze, die eigentlich gar keine ist.
Freseti (dpa) - Liebevoll streifen die von Kratzern gezeichneten
Hände über das kleine Bett. Isolda Schitischwili streicht die braune
Decke glatt. Die Frau versucht ihr Heim wohnlich zu machen,
ordentlich - auch wenn das Flüchtlingsdorf Freseti zwischen Georgien
und Südossetien gar nicht ihr Zuhause ist. Seit zehn Jahren lebt sie
hier. Seit zehn Jahren wartet sie. Und denkt an die nur 20 Kilometer
entfernte Heimat.
Die Menschen in Freseti lebten auch schon Tür an Tür, als ihr Dorf
unter einem anderen Namen etwas weiter nördlich lag, in Südossetien.
Sie alle waren wegen des Krieges zwischen Russland und Georgien
im August 2008 geflohen. Die Dorfgemeinde wurde von der georgischen
Regierung hierher verpflanzt, wie die 58-Jährige es nennt. «Jeder
weiß, dass wir wohl nie zurückkehren können. Aber die Hoffnung ist
das einzige, was wir haben.»
Ethnische Georgier wurden damals aus Südossetien und Abchasien an der
russischen Grenze vertrieben. Die beiden Regionen spalteten sich von
Tiflis ab. Häuser wurden niedergebrannt, Menschen getötet,
Landstriche verwüstet.
«Wegen der Angst, des Stresses, sind wir alle krank», sagt die Frau.
Seit sie vor zehn Jahren ihr Haus verlassen hat, leidet sie an
Panikattacken. «Ich denke an die Heimat und bekomme keine Luft. Ich
sterbe ganz langsam.» Um sich abzulenken, verbringt sie ihre Zeit
im Garten, gräbt um, jätet Unkraut, bis die Hände von innen zerkrat
zt
sind und bluten.
GEORGIEN, DAS URLAUBSLAND
Zehntausende Menschen leben als Flüchtlinge in Georgien, einem
kleinen Staat am östlichen Rand Europas im Kaukasus. Einem Land, das
gerade viele Touristen als hippes Reiseziel und Weinparadies für sich
entdecken - auch aus Deutschland.
Dabei ist das von Reiseführern als Touristenziel des Jahres beworbene
Georgien tief gespalten - wirtschaftlich und politisch. Die
Regierungen in den verarmten, abtrünnigen Provinzen Südossetien und
Abchasien im Norden treiben seit Jahrzehnten all diejenigen Bewohner
in die Flucht, die gegen die Unabhängigkeit sind.
Deshalb hat es sich Tiflis zur Aufgabe gemacht, einmal Mitglied in
der Europäischen Union und der westlichen Verteidigungsallianz Nato
zu werden. Doch es gibt eine Hürde, die auch für die EU-Oberen in
Brüssel bislang unüberwindbar scheint: Solange der Konflikt in der
Ex-Sowjetrepublik am Schwarzen Meer nicht gelöst ist, führt wohl
selbst auf lange Sicht kein Weg zur Mitgliedschaft. Auch die Nato
will sich den explosiven Streit nicht ins Haus holen.
Isolda und ihre geflüchteten Nachbarn wissen nichts von diesen
politischen Absichten. Die Frau blickt aus dem Fenster. Sie sieht
Reihen von Häusern, die sich kaum unterscheiden: weißes Dach, schmale
Veranda, Gartentor. 300 Mal hintereinander findet man dieses Bild auf
dem Hügel.
Vom Staat bekommen die Flüchtlingsfamilien in Freseti eine kleine
finanzielle Hilfe, die kaum zum Leben reicht. Im Monat müssen sie mit
45 Lari (rund 16 Euro) pro Person auskommen. Sieben von zehn
Bewohnern haben keine Arbeit. «Die in Tiflis lachen uns doch ins
Gesicht. Wer kann so schon überleben?», fragt Isolda, die von
Verwandten noch Geld zugesteckt bekommt. Die Regierung hat nur wenig
Finanzmittel zu verteilen. 100 Millionen Lari sind für die
Flüchtlingsfragen vorgesehen. Die Grundstücke und Häuser erhalten die
Menschen als Besitz - in einer verlassenen Region, wo Land kaum
verkäuflich ist.
EINE TIEFE WUNDE
Für die Flüchtlinge hatte das Drama in der Nacht zum 8. August 2008
begonnen, als die Welt gebannt auf die Eröffnung der Olympischen
Spiele in Peking wartete. «Wir haben nie geglaubt, dass die Panzer zu
unserem kleinen Dörfchen oben am Berg kommen», sagt Isolda und wischt
sich mit der Handfläche Tränen aus dem Gesicht.
Hunderte Menschen starben bei dem Fünf-Tage-Krieg, der eine
humanitäre Katastrophe auslöste. Nach zahlreichen Provokationen hatte
sich der damalige Präsident Michail Saakaschwili zu einem Angriff auf
das abtrünnige Südossetien und Abchasien hinreißen lassen. Russlands
Regierungschef Wladimir Putin kündigte noch von Peking aus einen
Vergeltungsschlag an.
Mit der Begründung, Moskau müsse Südossetien schützen, setzte die
Großmacht Panzer, Bomber und Bataillone in Bewegung, die Putin auch
in das georgische Kernland hinein schickte. Erst die Vermittlung
durch die EU stoppte das Blutvergießen.
Die Südkaukasusrepublik Georgien musste danach die Hoffnung auf
Rückkehr eines Fünftels ihres Gebietes begraben. Abchasien und
Südossetien erklärten sich für unabhängig, was nur von Russland u
nd
wenigen Staaten akzeptiert wird. Russische Soldaten kontrollieren
seitdem die Regionen, Geldspritzen aus Moskau halten die isolierten
Gebiete am Leben.
Damals flohen innerhalb weniger Wochen schätzungsweise 130 000
Menschen. Die Regierung in Tiflis stampfte mit ausländischer Hilfe
künstliche Orte wie Freseti aus dem Boden. Mitten im Nichts, nur die
Berge des Großen Kaukasus bieten in der Ferne Orientierung.
EIN FESTGEFAHRENER KONFLIKT
Beide Seiten sind in ihren Positionen unverändert: Russische
Politiker klagen darüber, dass Georgien sich dem Gespräch
verschließt. «Wer hindert denn die georgische Führung, einen Dialog
mit Südossetien und Abchasien zu suchen? Niemand!», sagte der
Ex-General und russische Außenpolitiker Wladimir Schamanow. Tiflis
hält dagegen. «Wenn es zu Gesprächen kommt, wird das torpediert und
behindert», sagt die georgische Staatsministerin für Versöhnung und
Gleichstellung, Ketewan Zichelaschwili.
Besonders leiden die Menschen in Freseti darunter, dass es kaum
Arbeit gibt. Warten wird zum Tagesinhalt. Obwohl das Leben in der
alten Heimat wirtschaftlich oft schlechter sei, wollten mehr als vier
Fünftel der Menschen eigentlich dorthin zurück, sagt Staatsministerin
Zichelaschwili. Auch wenn die Chance gering scheint.
DIE EU HAT BEOBACHTER VOR ORT
Heute reihen sich Dutzende Flüchtlingsdörfer zwischen Tiflis und der
Stadt Gori im Norden entlang einer Linie, die keinen richtigen Namen
hat, aber gefährlich werden kann. Staatsgrenze? Okkupationslinie? Die
EU bezeichnet sie in umständlicher Amtssprache als administrative
Grenzlinie.
Weil kaum jemand der Bewohner genau weiß, wo diese Linie verläuft,
und weil Grenzschilder immer mal wieder einfach versetzt werden,
kommt es regelmäßig zu Zwischenfällen: Bauern pflügen versehentlich
in Südossetien, im Glauben, ihr Feld im georgisch kontrollierten Teil
zu bestellen, erläutert ein Polizist. «Hier sieht nichts nach Grenze
aus - und zack, werden die Bauern festgenommen», sagt er. Weil er und
seine Kollegen keinen Einfluss auf die Behörden im Norden haben,
könnten sie den Bewohnern nicht helfen.
Sein Ausweg: ein Anruf bei der EU-Mission. Denn Brüssel hat
unbewaffnete Kräfte entsandt, die in solchen Fällen vermitteln.
Täglich patrouillieren die rund 200 Beobachter durch das gebirgige
Gebiet, darunter 11 Deutsche und 7 Österreicher. «Wir haben eine
Hotline - Georgien hat keine diplomatischen Beziehungen zu Russland
und den abtrünnigen Gebieten. Wenn etwas passiert, kommen wir ins
Spiel», sagt Missionsleiter Erik Høeg.
Im vergangenen Jahr wurde die Mission mehr als 1600 Mal von den
georgischen Behörden alarmiert, Tendenz steigend. Doch die Beobachter
haben keinen Zugang nach Abchasien und Südossetien, obwohl dies im
Friedensplan zugesichert wurde. Høeg sieht dennoch Erfolge. «Ich bin
der festen Überzeugung, dass sich die Bewohner aufgrund unserer
Präsenz sicherer fühlen.»
DER FRUST IST GROSS
Einige Bewohner äußern sich skeptischer. «Manchmal kommen die
EU-Leute ins Dorf mit ihren blauen Autos, mit großen Antennen auf dem
Dach», sagt Spartak Kazaschwili, der ein Nachbar von Isolda ist. «Ich
habe keine Ahnung, was die hier machen.», sagt der Mann. «Mein Leben
ändert sich dadurch aber nicht.»
Spartak spricht leise. Er ist 44 Jahre alt. Er wirkt älter. Drüben,
in der Provinz Achalgori, sei er Bauer gewesen. Er habe mit seiner
Familie ein ruhiges, aber gutes Leben verbracht. Heute sei davon
nichts mehr zu spüren. «Die Ernte hier kann man vergessen. Das Wasser
reicht nicht», sagt er. Die Frauen haben auf der Veranda auf einer
Decke Zwiebeln ausgebreitet, viele sind vertrocknet. Zum Verkauf
reiche es nicht, um über den Winter zu kommen, vielleicht.
Er wolle den Kindern irgendeine Perspektive bieten, er wisse nur
nicht wie. Inzwischen arbeitet Spartak in einem Steinbruch zwei
Autostunden entfernt. «Die Arbeit ist hart, aber stabil. Das ist das
wichtigste», sagt er.
Isoldas Nachbar wohnt mit zwei Brüdern, den Schwägerinnen, sechs
Kindern und seiner Mutter Olia zusammen. «Von Privatsphäre kann hier
keine Rede sein», findet die 68-Jährige. Sie schwelgt gerne in
Erinnerungen an Südossetien, guckt Fotos, denkt an die Apfelbäume vor
dem Haus. «Was sollen diese Sentimentalitäten?», entgegnet der Sohn.
«Ich möchte wissen: Wo finden wir Arbeit, wie bringen wir die Familie
durch?» Fragen, auf die Spartak keine Antwort weiß.
Manchmal spaziert er mit seiner Familie dann doch auf den nächsten
Berg, mit einem besonderen Ziel: Vom Gipfel können sie ihre Heimat
sehen. Denn Freseti fühlt sich nicht nach Zuhause an - auch nach zehn
Jahren nicht.