EU-Bürger in Großbritannien: Die große Angst vor dem No-Deal-Brexit Von Anne-Lena Leidenberger, dpa

22.02.2019 09:41

Das Leben kurz vor dem Brexit: Für mehr als drei Millionen Europäer
in Großbritannien bedeutet das vor allem Ungewissheit. Drei von ihnen
erzählen ihre Geschichte - vom Hoffen und Bangen um eine Zukunft nach
dem EU-Austritt.

London (dpa) - Kaum etwas macht Maria Llorente so viel Angst wie ein
Brexit ohne Abkommen. Llorente wartet an einem Abend Mitte Februar
mit Freuden am Bahnhof Waterloo in London auf ihren Zug. An der Bluse
der Spanierin steckt der Button von «the 3 million» - einer
Organisation, die sich für die Rechte der etwa 3,8 Millionen
EU-Bürger in Großbritannien einsetzt.

Die Gruppe kommt gerade von einer Info-Veranstaltung der Regierung
zum Brexit. Ihre Sorgen konnte Llorente dort niemand nehmen. «Es geht
hier in erster Linie nicht um mich, sondern um meine Eltern», sagt
die 47-Jährige, die seit langem in Großbritannien lebt. Vor fünf
Jahren holte Llorente ihre Eltern zu sich. Ihre Mutter war an Demenz
erkrankt und konnte sich nicht mehr selbst versorgen.

Sollte EU-Bürgern nach einem No-Deal-Brexit der Zugang zum britischen
Gesundheitssystem NHS verwehrt werden, müsste Llorente mit der ganzen
Familie nach Spanien umsiedeln. Und das, obwohl ihr Mann Brite ist
und das Paar einen zehnjährigen Sohn hat.

Die britische Regierung beschwichtigte zwar. Alles werde gut, sie
solle sich keine Sorgen machen, habe man ihr gesagt, erzählt
Llorente. Doch Gewissheit kann ihr zu diesem Zeitpunkt niemand geben.

Am kommenden Mittwoch soll das Parlament in London erneut über die
weiteren Schritte im Brexit-Prozess abstimmen. Gut fünf Wochen vor
dem Austritt am 29. März ist noch immer nicht klar, ob es ein
Abkommen geben wird oder das Land ungeregelt aus der EU kracht.

Llorente selbst lebt lange genug in Großbritannien, um die britische
Staatsbürgerschaft zu beantragen. Ihre Eltern können sich lediglich
für ein Bleiberecht, den sogenannten Settled Status, bewerben.

Bewerben - ein Wort, das Llorente Probleme bereitet. «Uns wurde
versprochen, dass wir hier bleiben dürfen. Wir sollten uns nicht
bewerben müssen.» Sie fordert ein unkompliziertes Verfahren bei den
lokalen Behörden statt eines Online-Bewerbungsprozesses mit
ungewissem Ausgang.

Für die Zeit nach dem Brexit müssen sich EU-Bürger in Großbritannie
n
registrieren. Wer schon mehr als fünf Jahre im Land ist, hat direkt
Anspruch auf ein Bleiberecht. Doch die Beweislast liegt am Ende beim
Antragsteller. Kritiker fürchten, dass dabei viele Menschen durchs
Raster fallen könnten, zum Beispiel Freiberufler und Rentner.

Auch für Julia Stryj steht bei einem Brexit ohne Abkommen viel auf
dem Spiel. Ein «No Deal» könnte das Ende ihrer Selbstständigkeit
bedeuten, sagt die 48-Jährige. Die Deutsche vermarktet seit 13 Jahren
in Schottland Räucherlachs. Grenzkontrollen, Zollgebühren und eine
Menge Bürokratie: Die Folgen eines No-Deal-Brexits würden Stryjs
kleines Unternehmen vermutlich in den Ruin treiben.

«Ein Großteil unserer Kunden kommt aus dem EU-Ausland», sagt sie.
Auch viele ihrer Lieferanten. «Wir kaufen aus Frankreich, Deutschland
und der Schweiz ein.» Für Räucherlachs würden bei einem ungeregelte
n
Brexit Zölle von 14 Prozent anfallen. Das sei damals auf Druck
Großbritanniens EU-weit eingeführt worden, um die norwegische
Konkurrenz fernzuhalten. Stryj, ihr französischer Geschäftspartner
und deren Angestellte könnten die höheren Kosten und den zusätzlichen

Arbeitsaufwand nicht stemmen.

Manche EU-Bürger haben bereits selbst eine Entscheidung getroffen,
eine von ihnen ist Sabine Schütte. Die 46-Jährige will Großbritannien

verlassen, sobald ihr Sohn das Gymnasium abgeschlossen hat. Als in
Australien geborene Tochter eines Deutschen und einer Französin hat
sie viele Möglichkeiten. «Am schwersten ist es für meinen Sohn, der
ist der Britischste von uns allen», so Schütte. Vier Monate war ihr
Sohn alt, als sie nach Großbritannien zog.

Als Deutsch-Französin sei sie quasi die Mensch gewordene
Repräsentation der EU, lacht Schütte. Weil sie jedoch akzentfrei
Englisch spricht, ist ihrem Umfeld oft gar nicht bewusst, dass sie
«eine von denen» ist.

Selbst die schönen Momente in ihrer Wahlheimat London kann Schütte
nicht mehr richtig genießen - weil sie weiß, dass sie gehen wird.
«Ich bleibe nicht, um diese Nation zu vereinen», sagt sie
entschlossen, «das ist nicht meine Agenda». All das sei viel zu
schmerzhaft, sagt Schütte und wird leise. «Ich fühle mich nicht mehr

zugehörig.»