Koalition im Abwärtssog - Ratlosigkeit bei SPD, Selbstkritik bei CDU Von Basil Wegener, Jörg Blank, Theresa Münch und Marco Hadem, dpa
27.05.2019 17:31
Für die Koalition ist nach den Wahlverlusten vieles anders - und doch
bleibt vorerst alles beim Alten. Die SPD ist tief verunsichert, der
CDU fehlen Antworten auf wichtige Fragen. Wie lange hält das
Regierungsbündnis?
Berlin (dpa) - Das Wahlbeben vom Sonntag hat in Deutschland vorerst
nur begrenzte Konsequenzen. Als SPD-Chefin Andrea Nahles nach
stundenlangen Krisensitzungen im Willy-Brandt-Haus am Montag vor die
Presse tritt, macht sie klar, dass sie nicht an Rücktritt denkt: «Die
Verantwortung, die ich habe, spüre ich, die will ich aber auch
ausfüllen.» Die Devise der angeschlagenen schwarz-roten
Koalitionspartner Union und SPD heißt: Durchhalten.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und CDU-Chefin Annegret
Kramp-Karrenbauer dürfte erstmal ein Stein vom Herzen gefallen sein,
dass es bei der SPD nicht kopflose Reaktionen auf das Wahldesaster
gibt. Die Union will Merkel mit einem stabilen Verhandlungsmandat zu
den Gesprächen über die künftige EU-Spitze nach Brüssel schicken. M
it
einer auseinanderfliegenden Koalition wären ihre Chancen nochmal
geschrumpft, den gemeinsamen Europa-Spitzenkandidaten von CDU und
CSU, Manfred Weber, als Kommissionspräsidenten durchzusetzen.
Eine schnelle Konsequenz aus dem Wahldesaster der SPD zieht
Umweltministerin Svenja Schulze. Nur Stunden danach schickt sie den
Entwurf für ein Klimaschutzgesetz in die Abstimmung innerhalb der
Regierung. Egal, was die Union sagt: Sie könne es nicht verantworten,
«hier noch mehr Zeit zu verlieren». Denn Versäumnisse beim
Klimaschutz haben beide Koalitionspartner als Hauptgrund für die
historischen Stimmverluste bei der Europawahl ausgemacht. Das
Wahlbeben droht die Koalition in einen Abwärtsstrudel zu stürzen.
Bei der SPD geht die Angst vor einer «Zeitenwende» um, wie es der
Abgeordnete Achim Post formuliert. Nahles sagt: «Das ist für uns alle
eine Zäsur.» Dass aber mit einem Austausch von Nahles an der
Fraktions- und vielleicht an der Parteispitze kurzfristig wenig zu
gewinnen ist, machen andere klar. «Die SPD hat reichlich Erfahrung
mit Wechseln an der Spitze», sagt Niedersachsens Regierungschef
Stephan Weil, «das hat sich in der Vergangenheit nicht ausgezahlt».
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller meint: «Wir haben
in
den letzten Jahren so viel Personalwechsel gehabt wie keine andere
Partei - und trotzdem haben wir diese Situation.»
Hoffnungslosigkeit macht sich bei manchen in der SPD-Führung breit.
Protestierende Schüler und Youtuber haben den Klimawandel oben auf
die Agenda gesetzt - und vor allem die jüngeren Wähler sind
scharenweise zu den Grünen abgewandert. In der Wahlnacht hält der
selbstbewusste Juso-Chef Kevin Kühnert seiner Partei das auf Twitter
vor - doch ändern kann er selbst auch nichts. In der Partei der
Solidarität bekämpfen sich Vertreter der Flügel trotz aller Aufrufe
zur Geschlossenheit jetzt gegenseitig.
Bei der CDU ist Selbstkritik der Parteichefin angesagt
Auch in der CDU ist Feuer unterm Dach. Nach sechs Monaten als
Nachfolgerin von Merkel an der Parteispitze war die Europawahl die
erste bundesweite Feuerprobe für Kramp-Karrenbauer - und die ging
schief. Besonders laut tobt der Chef des Unions-Mittelstands, Carsten
Linnemann. Die CDU sei drauf und dran, ihren Status als Volkspartei
zu verlieren, «Alarmstufe Rot» also. Obwohl er den Namen Merkel nicht
erwähnt, is klar, gegen wen sich die Kritik richtet: die Kanzlerin.
Kramp-Karrenbauer wird damit gerechnet haben, dass die Kritik etwa
von Merz-Anhängern wieder losbrechen würde, wenn die für eine
Volkspartei ziemlich tief hängende 30-Prozent-Marke bei der
Europawahl unterlaufen würde. AKK wählt die Taktik der offensiven
Selbstkritik: Sie habe sicherlich auch persönlich Fehler gemacht,
genauso wie ihr Umfeld (gemeint war unter anderen Generalsekretär
Paul Ziemiak) und auch andere in der CDU (gemeint waren die
ultrakonservative Werte-Union und teils auch die Junge Union).
Für das beim Wähler zentrale Thema Klimaschutz habe man keine Antwort
parat gehabt, räumt die Vorsitzende ein. Und auch beim millionenfach
geklickten Anti-CDU-Video des Youtubers Rezo habe die Parteizentrale,
sehr langsam und sehr spät reagiert - auf jeden Fall nicht so, «wie
man das im Wahlkampf tun muss».
Nachdem in einer internen Blitzanalyse aus ihrem Umfeld von einem
vermeintlichen «Rechtsruck» der JU die Rede war, muss sich AKK auch
noch in Richtung Parteijugend Asche aufs Haupt streuen: Es gebe an
keiner Stelle einen Rechtsruck der JU, ausdrücklich dankt sie dem
Nachwuchs fürs Engagement im Wahlkampf. Wie wichtig es ihr ist, den
Eindruck einer Achsverschiebung der Partei nach Rechts unter ihrer
Führung zu zerstreuen, zeigt ein Tweet, in dem sie versichert: «Es
gibt an keiner Stelle einen Rechtsruck, weder in der @CDU noch in der
@Junge_Union. Wir sind und bleiben die Volkspartei der Mitte!»
Denn in der CDU-Spitze gibt es Befürchtungen, Kramp-Karrenbauer habe
bei ihrem Versuch, den Migrationskonflikt mit der CSU zu entschärfen
und die Anhänger ihres konservativen Kontrahenten Friedrich Merz
einzubinden, Wähler aus der politischen Mitte verschreckt. Die
könnten scharenweise etwa zu den Grünen übergelaufen sein.
Und dann noch die Wahlkämpfer aus dem Osten: Sachsens
Ministerpräsident Michael Kretschmer und Thüringens CDU-Chef Mike
Mohring haben ganz andere Probleme als die West-Verbände: Sie kämpfen
gegen die Rechtspopulisten von der AfD, die bei der Europawahl in
Sachsen stärkste Partei geworden sind. Mohring macht auch keinen Hehl
daraus, dass er sich von der Parteispitze ziemlich allein gelassen
fühlt.
CSU-Chef Söder sieht SPD als Kernproblem der Koalition
Am Morgen nach der Europawahl sprudeln die Erkenntnisse aus Markus
Söder heraus. Kernproblem der großen Koalition sei die SPD. Die müsse
endlich klären, wie sie zur Koalition stehe und was sie wolle. Es
könne nicht darum gehen, die große Koalition mit einem ewigen «hin
und her» nur über die Zeit zu retten - die Bürger wollten das nicht.
Im übrigen müsse sich das Ansehen der Bundesregierung nun endlich
verbessern, dann werde auch das der beteiligten Parteien steigen.
Zugleich ist Söder aber bemüht, sich klar zur Schwesterpartei und
Kramp-Karrenbauer zu bekennen: «Wir müssen die CDU jetzt
unterstützen», sagt er nach Teilnehmerangaben im Vorstand. Der neue
Rückenwind dürfe die CSU nicht wieder in einen Belehrungsmodus
führen. Ungefragt bezieht Söder auch für AKK Stellung: «Ich schät
ze
sie sehr, und wir arbeiten sehr gut zusammen. Man sollte ihr jetzt
die Zeit geben, ihre Arbeit fortzusetzen.»