Drama um Sea-Watch polarisiert - Steinmeier kritisiert Italien Von Lena Klimkeit, dpa

30.06.2019 19:30

Eine deutsche Kapitänin bringt 40 Migranten unerlaubt nach Italien.
Ist sie kriminell oder beispiellos menschlich? Der jüngste Einsatz
von Sea-Watch scheint niemanden kalt zu lassen. Nun schaltet sich
auch Bundespräsident Steinmeier mit deutlichen Worten ein.

Rom (dpa) - Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat Italien wegen
der Festnahme der deutschen Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete
kritisiert. Im Sommerinterview des ZDF stellte er das Vorgehen der
Regierung in Rom gegen die Seenotretter in Frage. Mit einem
beispiellosen Manöver hatte die deutsche Hilfsorganisation Sea-Watch
zuvor die offene Konfrontation mit Italien gewagt. 

Trotz eines Verbots steuerte die 31 Jahre alte Kapitänin ihr
Rettungsschiff mit 40 im Mittelmeer geretteten Migranten in der Nacht
zum Samstag in den Hafen der sizilianischen Insel Lampedusa. Sie
wurde festgenommen. Auf Rackete kommt eine Geldstrafe zu, im
schlimmsten Fall Haft. Spätestens Dienstag wird ihre Vernehmung und
eine mögliche Bestätigung des Haftbefehls erwartet.

Es könne ja sein, dass es italienische Rechtsvorschriften gebe, wann
ein Schiff einen Hafen anlaufen dürfe, sagte Steinmeier laut
einem Bericht von zdf.de. «Nur: Italien ist nicht irgendein Staat.
Italien ist inmitten der Europäischen Union, ist Gründungstaat der
Europäischen Union. Und deshalb dürfen wir von einem Land wie Italien
erwarten, dass man mit einem solchen Fall anders umgeht.»

Insgesamt reichten die Reaktionen von Solidarität bis zu schierer
Empörung. Der italienische Innenminister Matteo Salvini erhob
schwerste Vorwürfe gegen Rackete. Auf Steinmeiers Äußerungen hin
erklärte Salvini, der deutsche Präsident möge sich um das kümmern,

was in Deutschland geschehe, und seine Bürger auffordern, nicht gegen
italienische Gesetze zu verstoßen.

In Vergessenheit geriet in der Aufregung fast, dass die Migranten
nach mehr als zwei Wochen auf dem Mittelmeer an Land gehen konnten.
Denn die Odyssee der «Sea-Watch 3» hatte am 12. Juni mit der Rettung
von 53 Bootsflüchtlingen vor Libyen begonnen - mehrere Migranten
konnten unter anderem wegen ihres Gesundheitszustands von Bord gehen.
Zuvor hatte die Regierung in Rom sich auf eine drastische
Verschärfung der Regeln für die Helfer verständigt. Sea-Watch ließ

sich nicht davon abhalten und fuhr mit den Geretteten in Richtung
Italien.

Nach tagelangem Warten an der Seegrenze sah sich die Kapitänin
gezwungen, die «Sea-Watch 3» auf Lampedusa zuzusteuern und
schließlich in den Hafen zu fahren. Dort touchierte sie auch noch ein
Boot der Finanzpolizei. Nach italienischen Medienberichten soll sich
Rackete dafür bereits entschuldigt haben.

Für Innenminister Salvini ist die Aktion der Beweis, dass die
Seenotretter «Kriminelle» seien. Er verteidigte die «Linie der
Strenge» seiner Regierung und sagte mit Blick auf die Helfer: «Sie
haben die Maske abgelegt: Das sind Verbrecher.»

Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) schaltete sich am Samstag via
Twitter ein: «Seenotrettung darf nicht kriminalisiert werden. Es ist
an der italienischen Justiz, die Vorwürfe schnell zu klären.»
Menschenleben zu retten, sei eine humanitäre Verpflichtung.

Die Bundesregierung dringt nach den Worten von Innenminister Horst
Seehofer (CSU) auf eine «gemeinsame europäische Lösung» zur Aufnahm
e
der 40 Bootsflüchtlinge. Er sei zuversichtlich, dass die
EU-Kommission auch im aktuellen Fall schnell eine Lösung aushandeln
werde. «Wir sind hier auf einem guten Weg», sagte Seehofer den
Zeitungen der Funke Mediengruppe (Montag). Eine nachhaltige Lösung
sollte in einer Reform des europäischen Asylsystems liegen. «Es ist
sehr klar, dass wir so nicht weitermachen können», sagte auch
EU-Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopoulos.

Aus Deutschland erreichte die Kapitänin eine Welle der Solidarität.
Die Fernsehmoderatoren Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf riefen
zu Spenden für die Seenotretter auf. Das wirkte: Bis
Sonntagnachmittag kam bereits mehr als eine halbe Million Euro
zusammen. «Mit den Ereignissen der letzten Tage hat diese
unmenschliche, kaltblütige und skrupellose Politik einen neuen
Tiefpunkt erreicht», sagte Böhmermann. Der Youtuber Rezo unterstützte

die Aktion und nannte es «abgefuckt», dass Rackete verhaftet wurde.

Am Sonntag meldete sich sogar Siemens-Chef Joe Kaeser zu Wort.
«Menschen, die Leben retten, sollten nicht festgenommen werden.
Menschen, die töten, die Hass und Leid säen und fördern, sollten es
»,
twitterte er. Kaeser ist bekannt dafür, sich als einer der wenigen
Top-Manager immer wieder auch zu politischen Vorgängen zu äußern.

«Der eigentliche Skandal ist das Ertrinken im Mittelmeer, sind die
fehlenden legalen Fluchtwege und ein fehlender Verteilmechanismus in
Europa», sagte Grünen-Chef Robert Habeck dem Redaktionsnetzwerk
Deutschland. Der Parteivorstand der Linken forderte die
Bundesregierung auf, die Geretteten in Deutschland aufzunehmen.
Deutschland hatte sich wie mehrere andere EU-Staaten dazu bereits
bereiterklärt. Grünen-Chefin Annalena Baerbock forderte in der «Welt
»
(Montag), das Auswärtige Amt solle «unverzüglich aktiv werden.»

Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin sagte laut Vatican News,
Menschenleben müssten auf jeden Fall und egal auf welche Weise
gerettet werden. Dies müsse «der Polarstern sein, der uns leitet,
alles andere ist zweitrangig». Der Ratsvorsitzende der Evangelischen
Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, nannte Racketes
Festnahme «eine Schande für Europa».

Der außenpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Bijan
Djir-Sarai, hält die Festnahme Racketes hingegen für gerechtfertigt.
«Sie wird trotz edler Motive für diese illegale Aktion die
Verantwortung übernehmen müssen», sagte Djir-Sarai der «Welt»
(Montag). Der AfD-Außenpolitiker Petr Bystron sagte der Zeitung:
Rackete «ist eine gewöhnliche Kriminelle, bei der jedoch von linken
Kreisen in Deutschland versucht wird, sie zu einer Heldin
hochzustilisieren».

Wie es langfristig für Sea-Watch weitergeht, ist unklar. Vorerst
verliert die Organisation ihr Rettungsschiff - nicht das erste Mal.
Am Samstag wurde es aus dem Hafen von Lampedusa gefahren und sollte
dem Innenminister zufolge in einen anderen Hafen gebracht werden. Der
Kapitänin, die nun Star und Feindbild zugleich ist, drohen mehrere
Anklagen, unter anderem wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung und
Verletzung des Seerechts.

Ihrem Vater Ekkehart zufolge ist Rackete aber «lustig und guter
Dinge». Das sagte der 73-Jährige dem Redaktionsnetzwerk Deutschland
(Montag). «Sie steht unter Hausarrest in Lampedusa und ist bei einer
sehr netten Dame untergebracht, die sich rührend um sie kümmert.»
Ekkehart Rackete rechnet damit, dass seine Tochter gegen Auflage oder
Kaution bis zu einem möglichen Prozessbeginn freikommt.

Die Seenotrettung sorgt seit langem für Streit innerhalb der
Europäischen Union. Die EU-Länder können sich nicht auf einen
Mechanismus zur Verteilung der Bootsflüchtlinge einigen. Eine Lösung
ist trotz des erheblichen Drucks, den die populistische Regierung in
Rom seit einem Jahr in der Frage ausübt, nicht zu erkennen.