Stippvisite am Hotspot - EU-Spitze stellt sich hinter Griechenland Von Anindita Ramaswamy, Linda Say und Gregor Mayer, dpa
03.03.2020 16:57
Die Lage im Nordosten Griechenlands ist etwas entspannter. Erdogans
Spiel mit den Migranten scheint vorerst nicht aufgegangen zu sein.
Ursula von der Leyen nennt Athen den «Schild Europas» - ein Lob, das
auch mit einem harten Vorgehen gegen Grenzverletzer erworben wurde.
Kastanies/Edirne (dpa) - Rundflug mit dem Hubschrauber, Fahrt ins
Innere der Sperrzone am Grenzübergang Kastanies und Gespräche mit
griechischen Militär- und Polizeikommandeuren: In wenigen Stunden hat
sich die Spitze der Europäischen Union (EU) am Dienstag ein Bild von
der Lage im Nordosten Griechenlands verschafft, die sich in den Tagen
davor dramatisch zugespitzt hatte. Der Grund: Die Türkei hatte
verkündet, ihre Grenzen zur EU seien für Flüchtlinge und Migranten
offen.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Ratspräsident Charles
Michel, Europaparlamentspräsident David Sassoli und Andrej Plenkovic,
der Ministerpräsident des EU-Vorsitzlandes Kroatien, stellen beim
anschließenden Pressetermin in Kastanies klar: Griechenland bleibt
beim Dichthalten der europäischen Außengrenze nicht allein und
genießt die uneingeschränkte Solidarität der EU.
«Die Sorgen Griechenlands sind auch unsere Sorgen», betont von der
Leyen. Griechenland dankt sie dafür, sich als «Schild Europas»
erwiesen zu haben - und verwendet in ihrem englischen Statement das
griechische Wort dafür - «aspida». Tenor der vier EU-Granden und
ihres Gastgebers, des griechische Ministerpräsidenten Kyriakos
Mitsotakis: der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan habe sich
verkalkuliert.
Die Taktik Erdogans, mit Tausenden in seinem Land festsitzenden
Flüchtlingen und Migranten Druck auf den Westen auszuüben, sei nicht
aufgegangen. Unter anderen will der türkische Präsident mehr Geld für
die Versorgung von 3,6 Millionen Kriegsflüchtlingen aus Syrien, die
die Türkei aufgenommen hat. Doch wie Mitsotakis festhielt: «Herr
Erdogan hatte mit seinen Drohungen keinen Erfolg.»
In den Tagen zuvor hatten sich in Nordost-Griechenland noch
dramatische Situationen angespielt. Rund 13 000 Menschen lagerten im
Gebiet vor dem Grenzübergang Kastanies. Immer wieder schlug die
griechische Polizei große Gruppen zurück, die mit Gewalt versuchten,
die Absperrungen zu durchbrechen. Die Beamten hielten sie mit
Tränengas und Blendgranaten zurück. Menschenrechtler äußerten
Zweifel, dass dieses harte Vorgehen angemessen sei.
Auf der türkischen Seite von Kastanies, am Grenzübergang Pazarkule
bei Edirne, trafen wohl auch neue Flüchtlinge ein. Eine vierköpfige
Familie aus dem syrischen Mossul wartete aber nach eigener
Darstellung zwei Tage in zwei Kilometer Entfernung darauf, endlich
von den türkischen Sicherheitskräften zur Grenze gebracht zu werden.
Familienvater Ahmed Chalaf Awad (25) hofft, dass sie nach Deutschland
oder Kanada weiterreisen können, «überall hin, nur nicht die Türkei
».
100 Kilometer südlich, nahe dem türkischen Grenzübergang Ipsala,
stoßen dpa-Reporter vor einem Hochzeitssaal auf eine Gruppe von 50
Flüchtlingen. Aus sozialen Medien wollen sie erfahren haben, dass die
Grenzen in den Westen nun offen seien. Jetzt stellen sie aber fest,
dass Ipsala geschlossen ist. Manche von ihnen geben an, es auf die
griechische Seite geschafft zu haben. Dort seien sie aber von
griechischen Sicherheitskräften geschlagen und zurückgeschickt
worden. Außerdem seien ihnen Kleidung und Telefone abgenommen
worden.
Unter den Gestrandeten sind Pakistaner, Nigerianer, Somalier, Syrer
und Iraker. Bei ihnen macht sich Enttäuschung breit. Kinder sitzen am
Boden und essen Simit - türkische Sesamringe. Unweit sind Busse
aufgereiht - sie sollen die Menschen angeblich zurück nach Istanbul
transportieren. Doch die Wartenden sind skeptisch: «Man lügt uns an.
In Wahrheit bringt man uns nur ins Zentrum von Edirne.» Ein Syrer
merkt bitter an: «Wieso hat man uns hierhergebracht, wenn die Grenzen
doch geschlossen sind?»
Im griechischen Grenzort Kastanies herrscht zur selben Zeit eine
unnatürliche Ruhe. Normalerweise kommen viele Türken aus dem nahen
Edirne hierher, um einzukaufen, in den Restaurants zu essen oder ein
paar Bier zu trinken. Jetzt ist der Grenzübergang geschlossen. «Wir
sind etwas besorgt, aber nicht sehr», sagt die Rentnerin Smaragda
Katzila (70), die an der Straße zum Grenzübergang wohnt. Mit ihrem
Mann hat sie 20 Jahre lang in Düsseldorf gelebt, sie erinnert sich
gerne an diese Zeit.
Die Zusammenstöße der vergangenen Tage mit Tränengas, Blendgranaten
und Steinwürfen hatten sich keine zwei Kilometer von ihrem Heim
abgespielt, mitbekommen hat sie sie aus den Nachrichten. Sie wünscht
sich mehr Polizei- und Militärpräsenz in dem kleinen Ort und ein
sichtbares Auftreten der europäischen Grenzschutzagentur Frontex.
«Das kommt alles vom Erdogan», meint sie. Ihr sei eine gute
Nachbarschaft mit der Türkei wichtig. «Die Menschen in Edirne sind
auch gar nicht für Erdogan», meint sie zu wissen.
Eine knappe Stunde später spazieren zwei Migranten - junge Männer -
aus der Richtung des schwer bewachten Grenzübergangs kommend an ihrem
Haus vorbei. 100 Meter weiter halten griechische Polizisten die
Männer an. Die beiden geben an, Syrer zu sein. Woher sie so
unvermittelt auftauchten, ist unklar. Einer macht Schwimmbewegungen,
was darauf hindeutet, dass sie durch den Grenzfluss Evros geschwommen
sein könnten.
Nach zehn Minuten hält ein weißer Lieferwagen, ohne Kfz-Kennzeichen,
mit Männern in Zivil. Polizisten übergeben ihnen die zwei jungen
Männer. Einer der Uniformierten meint, sie würden auf die
Polizeiwache gebracht. Genaueres weiß keiner. Es ist die dunkle Seite
des griechischen «Schildes».