Juristen rechnen wegen Corona mit Prozesswelle um Flugentschädigungen Von Christian Ebner, dpa

06.03.2020 14:42

Unabhängig von der weiteren Entwicklung wird die Coronavirus-Krise in
der Luftfahrt ein juristisches Nachspiel haben. Die Absage tausender
Flüge könnte die Fluggesellschaften noch teurer kommen als gedacht.

Frankfurt/Main (dpa) - Gerade noch stöhnen die deutschen Amtsrichter
unter der Last von mehr als 100 000 neuen Verfahren um verspätete
oder ausgefallene Flüge, da kündigt sich bereits die nächste
Streitwelle an. Die Absage mehrerer tausend Europaflüge wegen der
Coronavirus-Krise wirft die Frage auf, ob die Inhaber bereits
gebuchter Tickets nun Entschädigungsansprüche nach der
EU-Fluggastrichtlinie 261 anmelden können. Während sich die Airlines
auf außergewöhnliche Umstände berufen, die sie von Entschädigungen

entbänden, sehen Internet-Fluggastportale gute Chancen auf
Entschädigungen von 250 bis 600 Euro.

«Es wird sicherlich zu vermehrten Streitigkeiten kommen, ob aufgrund
des Coronavirus annullierte Flüge einen berechtigten Anspruch auf
Ausgleichszahlung darstellen», sagt Heinz Klewe, Geschäftsführer de
r
Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr (SÖP)
in Berlin. Seine Einrichtung soll Prozesse vermeiden und zu
Kompromissen zwischen Kunden und Unternehmen führen. Die
Schlichtungsempfehlungen zu Flugreisen wurden 2019 zu 88 Prozent von
beiden Seiten angenommen.

Grundsätzlich steht den Konsumenten außer der Schlichtung die
individuelle Klage mit einem eigenen Rechtsanwalt offen oder die
Kooperation mit einem der zahlreichen Internetportale, die gegen
üppige Erfolgshonorare den juristischen Kleinkrieg mit den
Fluggesellschaften übernehmen.

Lufthansa, Ryanair und Co. hätten ihre Europaflüge allein aus
betriebswirtschaftlichen Gründen zusammengestrichen, argumentiert
beispielsweise Lars Watermann vom Portal EUflight, das Passagieren
bereits ihre Forderungen aus den Corona-Absagen abkauft. Es habe
keine behördlichen Verbote gegeben, wegen der Virusausbreitung etwa
Flüge im deutschen Inland oder nach Italien zu unternehmen. «Wenn ein

nicht ausgelasteter Flug aus betriebswirtschaftlichen Gründen
annulliert wird, liegt hierin kein außergewöhnlicher Umstand, der die
Fluggesellschaft von einer Entschädigungszahlung befreit.» Das
unternehmerische Risiko der Auslastung müsse allein die
Fluggesellschaft tragen.

Die deutsche Flugbranche hat über den Bundesverband der Deutschen
Luftverkehrswirtschaft (BDL) die Gegenposition eingenommen. Die
Einschnitte in die Flugpläne seien letztlich auf außergewöhnliche
Umstände zurückzuführen, weil die Fluggesellschaften nur auf die
Ausbreitung des Virus reagiert hätten. «Leere Flugzeuge zu fliegen,
wäre wirtschaftlich unverantwortbar und ökologisch völlig schädlich
»,
hatte der Verband dann noch erklärt.

Statt einer Entschädigung nach der EU-Verordnung sollten die Kunden
den Ticketpreis erstattet bekommen oder kostenlos umbuchen können, so
der BDL. Das ist auch die Position der Lufthansa, die etwaige
Entschädigungsforderungen nach der EU-Verordnung nicht akzeptieren
würde, wie ein Sprecher in Frankfurt erklärte. Mit einer am Freitag
verkündeten Lockerung der Umbuchungsbedingungen bei allen
Konzerngesellschaften kommt der Konzern den Kunden entgegen.
Watermann allerdings warnt: Wer selbst storniert oder umbucht, erhält
auf keinen Fall eine Entschädigung.

Entscheidend für die Frage nach einem Anspruch sind der Verordnung
zufolge auch bestimmte Fristen sowie die Qualität der angebotenen
Ersatzverbindungen. Storniert die Fluggesellschaft ein Ticket
mindestens 14 Tage vor dem geplanten Flug, ist keine Entschädigung
fällig. Bei kürzerer Vorwarnzeit gelten bestimmte Abweichungen von
den ursprünglichen Flugzeiten noch als akzeptabel.

Klarer sei die Lage bei Flügen nach Israel, sagt der Reiserechtler
Ronald Schmid, der auch für das Portal Fairplane spricht. Das vom
Staat verhängte Einreiseverbot für Europäer sei ein typischer
externer Grund, den die Fluggesellschaften nicht zu vertreten hätten
und in der Folge auch nicht entschädigen müssten. Bei den viel
zahlreicheren Europaflügen müsse man sich hingegen den jeweiligen
Einzelfall anschauen. Den Gerichten wird die Arbeit an Bagatellfällen
um Flugentschädigungen also nicht ausgehen. Watermann weist
allerdings den Airlines die Schuld an der Verfahrensflut zu: In rund
4000 Verfahren gegen EUflight seien sie zu 97 Prozent unterlegen.

Die EU-Kommission will generell die Entschädigungsregeln lockern, so
dass die Airlines erst bei Verspätungen von mehr als fünf Stunden
zahlen müssten. Der Chef der Verbraucherzentrale Bundesverband, Klaus
Müller, sieht das kritisch. Für die Fluggesellschaften würde ein
wichtiger Pünktlichkeitsanreiz wegfallen. Müller fordert die
Bundesregierung auf, den Plänen nicht zuzustimmen.