EZB-Urteil: EU-Kommission bereitet Verfahren gegen Deutschland vor

08.06.2021 15:42

Das Urteil zu den Staatsanleihekäufen der EZB hat europaweit für
Wirbel gesorgt. Nicht wenige sahen die europäische Rechtsgemeinschaft
in Gefahr. Nun bereitet die EU-Kommission rechtliche Schritte vor.

Brüssel (dpa) - Die EU-Kommission bereitet wegen eines umstrittenen
Karlsruher Verfassungsurteils zu milliardenschweren Anleihekäufen der
Europäischen Zentralbank ein Vertragsverletzungsverfahren gegen
Deutschland vor. Die formale Entscheidung solle bis Mittwoch im
schriftlichen Verfahren fallen, erfuhr die Deutsche Presse-Agentur in
Brüssel aus EU-Kreisen.

Anschließend hätte Deutschland zunächst einige Monate Zeit,
schriftlich auf die Bedenken der EU-Kommission zu reagieren. Sollten
die Sorgen der Behörde im Laufe des Verfahrens nicht ausgeräumt
werden, könnte sie Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof
verklagen. Die EU-Kommission ist in der Staatengemeinschaft für die
Überwachung von EU-Recht zuständig.

Hintergrund ist eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von
Mai 2020. Dieses hatte die Wertpapierkäufe der EZB beanstandet - und
sich damit zum ersten Mal gegen ein vorheriges Urteil des
Europäischen Gerichtshofs gestellt. Eigentlich hat EU-Recht in der
Staatengemeinschaft Vorrang vor nationalem Recht. Die EZB ist zudem
politisch unabhängig. Diese Grundsätze sahen Kritiker durch das
Urteil gefährdet.

Die Verfassungsrichter argumentierten hingegen, die Notenbank habe
mit dem 2015 gestarteten Programm ihr Mandat für die Geldpolitik
überspannt. Bundesregierung und Bundestag sollten darauf hinwirken,
dass Europas Währungshüter nachträglich prüfen, ob die Käufe
verhältnismäßig sind. Mittlerweile haben Bundesregierung und
Bundestag das Urteil des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt, wie das
Gericht in einem Beschluss von Ende April feststellte.

Die EZB hatte zwischen März 2015 und Ende 2018 rund 2,6 Billionen
Euro in Staatsanleihen und andere Wertpapiere gesteckt - den
allergrößten Teil über das Programm PSPP (Public Sector Purchase
Programme), auf das sich das Urteil bezieht. Zum 1. November 2019
wurden die umstrittenen Käufe neu aufgelegt, zunächst in
vergleichsweise geringem Umfang von 20 Milliarden Euro im Monat.

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hatte bereits kurz nach dem
Urteil angekündigt, ein Verfahren gegen Deutschland zu prüfen. Damals
bestand vor allem die Sorge, andere Länder könnten sich ein Beispiel
am Vorgehen der deutschen Verfassungsrichter nehmen und künftig
ebenfalls EuGH-Urteile ignorieren. Im Blick ist dabei unter anderem
Polen.

«Ich nehme diese Sache sehr ernst», betonte von der Leyen im Mai
2020. Sie argumentierte, dass es drei Grundprinzipien gebe: Die
Währungspolitik sei allein Sache der EU; EU-Recht habe Vorrang vor
nationalem Recht; EuGH-Urteile seien für nationale Gerichte bindend.
«Das letzte Wort zu EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen.
Nirgendwo sonst.»