Polen und EU streiten: Nationales Recht oder EU-Recht - was geht vor?

10.06.2021 18:17

Der Konflikt zwischen Brüssel und Warschau um die Reformen der
polnischen Justiz geht in eine neue Runde. Polen soll den Vorrang von
EU-Recht gegenüber nationalem Recht anerkennen, fordert der
EU-Justizkommissar. Regierungschef Morawiecki sieht das anders.

Warschau/Brüssel (dpa) - Die EU-Kommission drängt Polen, den Vorrang
von EU-Recht vor nationalen Vorschriften anzuerkennen - und trifft
damit auf heftigen Widerspruch in Warschau. «Die polnische Verfassung
ist dem EU-Recht übergeordnet», sagte Regierungschef Mateusz
Morawiecki am Donnerstag. Damit stellte er sich offen gegen Brüssel.

EU-Justizkommissar Didier Reynders hatte zuvor an Polens
Europaminister Konrad Szymanski geschrieben. Konkret forderte
Reynders, die Regierung solle ihre Vorlage beim polnischen
Verfassungsgericht vom 29. März zurückziehen. Das Gericht soll
klären, welches Recht vorgeht. Morawiecki erteilte Reynders' Anliegen
eine Absage: Dies werde er nicht tun, sagte der Regierungschef.

Erst am Mittwoch hatte die Kommission ein Verfahren gegen Deutschland
eingeleitet, weil sich das Bundesverfassungsgericht mit einem Urteil
zur Europäischen Zentralbank 2020 über einen Spruch des Europäischen

Gerichtshofs hinweggesetzt hatte. Der von Reynders beschriebene
Sachverhalt in Polen liegt ähnlich.

Morawiecki habe das polnische Verfassungsgericht gebeten, ein Urteil
des EuGH vom 2. März 2021 zu überprüfen, heißt es in dem Schreiben

des EU-Justizkommissars, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt.
In dem Urteil hatten die obersten EU-Richter festgestellt, dass
EU-Recht Mitgliedsstaaten zwingen kann, einzelne Vorschriften im
nationalen Recht außer Acht zu lassen, selbst wenn es sich um
Verfassungsrecht handelt.

Die Vorlage Morawieckis an das polnische Verfassungsgericht «scheint
fundamentale Prinzipien des EU-Rechts in Frage zu stellen,
insbesondere das Prinzip, dass EU-Recht Vorrang vor nationalem Recht
hat und dass Urteile des Europäischen Gerichtshofs für alle
nationalen Gerichte und andere staatliche Stellen in Mitgliedsstaaten
bindend sind», schrieb Reynders. Die Vorlage verstoße auch gegen das
Prinzip der treuen Zusammenarbeit in der EU. Reynders forderte eine
Antwort Szymanskis binnen eines Monats. Man behalte sich vor,
nötigenfalls die in den EU-Verträgen vorgesehenen Schritte
einzuleiten, heißt es weiter.

Die EU-Kommission liegt seit Jahren mit der national-konservativen
Regierung in Polen im Streit wegen des dort eingeleiteten Umbaus der
Justiz. Unter anderem hat die Brüsseler Behörde Zweifel an der
Unabhängigkeit des polnischen Verfassungsgerichts.

Polens Justizminister Zbiegniew Ziobro sagte, der Brief von Reynders
zeige den antidemokratischen und nicht-rechtsstaatlichen Charakter
der EU. «Dies ist ein Beweis für die Unverschämtheit, die Aggression

und den kolonialen Blick auf Polen», sagte Ziobro. Kein anderes Land
und keine Organisation könnten Polens Regierungschef verbieten, eine
Vorlage beim polnischen Verfassunggericht einzureichen, damit eine
strittige Frage geklärt werde.