Der Brexit als Perpetuum mobile - Fünf Jahre nach dem EU-Referendum Von Christoph Meyer und Verena Schmitt-Roschmann, dpa

22.06.2021 12:00

Ein halbes Jahrzehnt ist es her, dass die Briten in einem Referendum
mit knapper Mehrheit für den EU-Austritt ihres Landes stimmten. Für
alle Beteiligten ein historischer Schnitt - der noch lange nachwirken
dürfte.

London/Brüssel (dpa) - «Das britische Volk hat gesprochen und die
Antwort ist: Wir sind raus» - mit diesen Worten verkündete
BBC-Moderator David Dimbleby nach einer langen Wahlnacht das Ergebnis
des EU-Referendums in Großbritannien. Am 23. Juni 2016 stimmten die
Briten mit 52 zu 48 Prozent für den Austritt ihres Landes aus der
Europäischen Union. Eine Sensation, ein Schock, ein Beben.

Fünf Jahre später ist Großbritannien tatsächlich raus. Vor sechs
Monaten wurden die letzten Taue gekappt. Doch das Thema Brexit ist
noch immer nicht vom Tisch. Zwar haben sich London und Brüssel mühsam
in jahrelangen Verhandlungen auf einen Austrittsvertrag und ein
Handelsabkommen geeinigt. Aber die Umsetzung bereitet so große
Schwierigkeiten, dass die Beziehungen auf einem Tiefpunkt sind.

Die Themen haben sich in all den Jahren kaum geändert. Da ist die
Frage, wie der zerbrechliche Frieden in Nordirland bewahrt werden
kann ohne die einende Klammer der EU zwischen der britischen Provinz
und dem EU-Mitglied Irland. Da sind die Rechte von EU-Bürgern in
Großbritannien. Und da ist der emotional aufgeladene Zank um
Fischereirechte.

Mal werden EU-Bürger in Großbritannien in Abschiebehaft gesteckt,
weil sie kein gültiges Visum haben. Mal machen sich Dutzende
französische Fischer aus Protest zu der zur britischen Krone
gehörenden Insel Jersey auf, weil ihre Fangrechte beschnitten wurden.
Und nun auch noch der «Würstchenkrieg». Weil Fleisch- und Wurstwaren

wegen unterschiedlicher Hygieneregeln demnächst womöglich nicht mehr
nach Nordirland eingeführt werden dürfen, droht Großbritannien damit,

die Brexit-Regeln für den Handel mit Nordirland einseitig außer Kraft
zu setzen. Dabei war um diese Nordirland-Lösung jahrelang gerungen
worden, um die Grenze zur Republik Irland offen zu halten und
zugleich den EU-Binnenmarkt zu schützen.

Der anhaltende Streit ist kein Zufall, glaubt Politik-Professor Anand
Menon vom King's College in London. «(Premierminister) Boris Johnson
profitiert davon, dass eine gewisse Spannung mit der EU herrscht,
weil Johnsons politische Koalition aus Leave-Wählern besteht», sagte
er der Deutschen Presse-Agentur.

Der Tory-Politiker Johnson hatte im Sommer 2019 seine glücklose
Vorgängerin Theresa May abgelöst und wenige Monate später mit dem
Versprechen, «den Brexit durchzuziehen», bei einer vorgezogenen
Parlamentswahl eine überwältigende Mehrheit gewonnen - zu Lasten der
Sozialdemokraten von Labour, die einen großen Teil ihrer Hochburgen
im ehemals tiefroten Norden des Landes verloren.

Johnson hielt sein Versprechen. Daher spielt es offenbar auch kaum
eine Rolle, dass der Brexit bislang kaum einen der im Referendum
versprochenen Vorteile brachte. Von 350 Millionen Pfund, die
angeblich für den Gesundheitsdienst NHS frei werden sollten, bis zu
sagenhaften Handelsverträgen mit den USA, China und Indien wurde
bislang kaum etwas realisiert.

Der wahre Erfolg des Brexits liegt in der britischen Innenpolitik -
zumindest für diejenigen, die davon profitierten. Menon zufolge ist
eine fundamentale Neuausrichtung der Wählergruppen in Großbritannien
zu beobachten. «Wir haben Politik immer nach Klassen eingeteilt: Eine
Seite war wirtschaftlich links ausgerichtet, die andere rechts»,
erläutert der Forscher. Doch das habe sich geändert. Johnsons
Konservative Partei müsse den Spagat zwischen Wählern auf beiden
Seiten dieser entgegengesetzten Pole schaffen. Das einende Element
sei die Ablehnung gegen Brüssel.

Ob das auf Dauer funktioniert, ist ungewiss. Denn worauf man sich
derzeit verlassen könne in der britischen Politik sei vor allem die
Sprunghaftigkeit der Wähler, sagt der Forscher. Auf absehbare Zeit
dürfte jedoch der Streit mit Brüssel fester Bestandteil britischer
Politik bleiben. Der Brexit quasi als Perpetuum mobile: einmal in
Gang gesetzt, kommt nie mehr Ruhe rein. Die EU habe ihrerseits ein
Interesse daran, dass Großbritannien mit dem Brexit scheitere, glaubt
Menon.

In Brüssel würde das kaum jemand so offen aussprechen. Doch sonnten
sich EU-Politiker in den Jahren nach dem Brexit-Votum in der
Genugtuung, dass sie den schmerzhaften Trennungsprozess einigermaßen
gefasst, professionell und geregelt über die Bühne brachten, im
Kontrast zu den politischen Kapriolen in London. Der Brexit dürfte
die EU der 27 eher gestärkt als geschwächt haben.

Der Streit über die Nordirland-Regeln legt den Gegensatz offen:
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und ihr zuständiger Vize
Maros Sefcovic pochen hartnäckig auf die ja gerade erst vereinbarten
Verträge mit London. Sie können sich dabei auf die beinahe schon
reflexhafte Empörung über die Unzuverlässigkeit der Briten in den
EU-Ländern verlassen. Für Johnson und Co ist das Monieren aus Brüssel

ein Geschenk, weil sie im «Würstchenstreit» den pingeligen Kleingeist

anprangern können, den ihre Wähler ohnehin hinter jeder Ecke im
Europaviertel in Brüssel vermuten.

Auch die EU wäre womöglich eine andere ohne den Brexit: Die
Corona-Pandemie hat der Kommission noch mehr Gewicht verschafft, sei
es bei der Impfstoffbeschaffung oder der Verteilung der Milliarden
zur wirtschaftlichen Erholung. Die EU grübelt zwar immer noch über
Reformen, doch die Krise schweißte sie de facto enger zusammen. Ob
die Briten das jemals mitgemacht hätten, wäre das historische
Referendum vor fünf Jahren anders ausgegangen?