80 Jahre NS-Angriff auf Sowjetunion - Putin kritisiert EU und Nato

22.06.2021 18:02

Der 22. Juni 1941 markierte den Beginn eines grausamen
Vernichtungsfeldzugs der Wehrmacht in der Sowjetunion. Russlands
Präsident nutzt den Gedenktag für Kritik am Westen. Doch auch die
Erinnerungskultur in seinem Land ist umstritten.

Moskau (dpa) - Mit Gedenkveranstaltungen haben Russland, die Ukraine,
Belarus und andere Staaten an den Überfall Hitler-Deutschlands auf
die Sowjetunion vor 80 Jahren erinnert. In Berlin besuchte
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Dienstag das sowjetische
Ehrenmal Schönholzer Heide und legte einen Kranz nieder. Der Angriff
durch die Nazis am 22. Juni 1941 markierte für die Kommunisten den
Beginn des Großen Vaterländischen Krieges.

Russlands Präsident Wladimir Putin legte in Moskau Blumen am Grabmal
des unbekannten Soldaten an der Kremlmauer nieder. Der Platz war
weiträumig abgesperrt und nur für ausgewählte Besucher zugänglich.


Auch der AfD-Spitzenkandidat und Fraktionsvize Tino Chrupalla, der in
dieser Woche in der russischen Hauptstadt zu Besuch ist, brachte dort
einen Kranz vorbei. «Es war mir persönlich wichtig, ein Zeichen der
Versöhnung zu setzen», sagte der Politiker der Deutschen
Presse-Agentur in Moskau. «Leider war ich der einzige Vertreter aus
Deutschland, der hier einen Kranz abgelegt hat.

In der Ukraine gedachte Präsident Wolodymyr Selenskyj in der
Hauptstadt Kiew der Opfer des Zweiten Weltkriegs und hielt eine
Schweigeminute ab. In Belarus, das während des Krieges jeden dritten
Einwohner verloren hatte, kamen Tausende Menschen noch im
Morgengrauen zur Festung in Brest im Westen des Landes an der Grenze
zu Polen. Zu Ehren gefallener Soldaten seien weiße Luftballons in den
Himmel aufgestiegen, meldete die Staatsagentur Belta.

Russlands Präsident Putin sprach sich anlässlich des Jahrestags in
einem deutschsprachigen Gastbeitrag für die Zeitung «Die Zeit» zudem

für bessere Beziehungen mit Europa aus. Es gebe viele gemeinsame
Interessen wie Sicherheit, strategische Stabilität, Klima- und
Umweltprobleme, schrieb Putin in dem Text, den das Medium am Dienstag
veröffentlichte. Gleichzeitig erhob das russische Staatsoberhaupt
Vorwürfe gegen EU und Nato.

«Die Grundursache des zunehmenden gegenseitigen Misstrauens in Europa
lag im Vorrücken des Militärbündnisses gen Osten», kritisierte Puti
n
in dem Beitrag, der laut «Zeit» zuerst auf Russisch und dann auf
Deutsch in der Redaktion eingetroffen war. Europa warf er vor, einen
«bewaffneten verfassungswidrigen Staatsstreich» in der Ukraine
unterstützt zu haben. Damals war der russlandfreundliche Präsident
Viktor Janukowitsch von prowestlichen Kräften gestürzt worden.

Der Kremlchef erinnerte daran, dass mit dem Angriff der Nazis am 22.
Juni 1941 für das sowjetische Volk der Große Vaterländische Krieg
begonnen hatte - «der blutigste in der Geschichte unseres Landes». Er
lobte «den Mut und die Standhaftigkeit der Helden der Roten Armee und
der Arbeiter daheim», die nicht nur ihr Vaterland, sondern auch
Europa und die ganze Welt vor Versklavung gerettet hätten.

Putin telefonierte zudem mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, wie der
Kreml und das Bundespresseamt in Berlin mitteilten. Die
CDU-Politikerin sprach außerdem mit Selenskyj, wie der ukrainische
Präsident mitteilte. «Die Welt muss alles dafür tun, dass sich solche

Tragödien niemals wieder wiederholen», mahnte er.

Der Historiker Matthias Uhl zeigte sich unterdessen besorgt
angesichts des Umgangs mit dem Zweiten Weltkrieg in Russland. «Es
wird auf eine strikte Gesetzgebung zurückgegriffen, die Lesarten
vorschreiben möchte», sagte der Experte am Deutschen Historischen
Institut (DHI) in Moskau. So ist es per Gesetz nun etwa verboten, die
Diktaturen von Adolf Hitler und Josef Stalin zu vergleichen. Wer sich
abfällig über frühere Angehörige der Roten Armee äußert, riskie
rt
eine Strafverfolgung wegen Veteranenbeleidigung.

«Man sollte Argumentationen und Diskussionen viel mehr Raum geben»,
sagte Uhl der Deutschen Presse-Agentur. Es müsse erlaubt sein, Fragen
zu stellen - auch mit Blick darauf, dass der Weltkrieg besonders für
junge Generationen immer weiter weg sei.

Im Vordergrund stünden heute Sieg und Heldenverehrung, sagte der
Historiker. «Es gibt den Versuch, den Mythos am Leben zu halten - und
ein unbeflecktes Bild der Roten Armee zu zeigen und alles
auszublenden, von dem man glaubt, dass es das Bild des Sieges trüben
könnte.»

Die Sowjetunion hatte mit rund 27 Millionen Toten so viele Opfer zu
beklagen wie kein anderes Land im Zweiten Weltkrieg. Der Überfall
durch die Nazis markierte den Beginn eines beispiellosen
Vernichtungsfeldzugs - darunter die Leningrader Blockade, mit der die
NS-Führung und die Wehrmacht versuchten, die Bevölkerung der Stadt in
den Hungertod zu treiben.