Streit um EU-Stabilitätspakt - Scholz findet Regeln flexibel genug

10.09.2021 18:48

In der Debatte um die Rückkehr zur Haushaltsdisziplin nach der
Corona-Krise werden in der EU erste Bruchlinien sichtbar. Geht es
zurück zu strengen Obergrenzen für Schulden und Ausgaben?

Kranj (dpa) - In der EU bahnt sich Streit um die Rückkehr zu strengen
Haushaltsregeln nach der gewaltigen Schuldenaufnahme in der
Corona-Krise an. Bundesfinanzminister Olaf Scholz erteilte
weitreichenden Reformvorschlägen am Freitag eine Absage. «Wir haben
einen guten Rahmen für Stabilität in Europa. Und er hat gezeigt,
gerade jetzt in der Krise, dass er besonders handlungsfähig ist»,
sagte der SPD-Kanzlerkandidat bei einem Treffen der Wirtschafts- und
Finanzminister der EU in Slowenien. Der französische Ressortchef
Bruno Le Maire sprach hingegen von Regeln, die «offensichtlich
obsolet sind».

Als Beispiel nannte er die Obergrenze für öffentliche Schulden. Es
gebe inzwischen große Unterschiede bei den Schuldenquoten der
Mitgliedstaaten. «Wir müssen eine andere Methode finden, andere
Regeln», sagte Le Maire. Auch die spanische Wirtschaftsministerin
Nadia Calviño forderte «neue Regeln, die bereit sein sollen, bevor
wir diese außergewöhnliche Situation der Pandemie-Bekämpfung
verlassen.»

Scholz betonte, man müsse zu den Stabilitätskriterien der
EU-Haushaltsregeln zurückkehren. «Alle wissen auch, dass das ein
Prozess ist, der einen Übergang benötigt. Das ist aber alles im
Rahmen der geltenden Regeln möglich», sagte Scholz. Die Regeln hätten

den Mitgliedstaaten die Möglichkeit gegeben, den gemeinsamen
Wiederaufbau nach der Pandemie mit einem europäischen
Konjunkturprogramm zu planen.

Der Europaabgeordnete Rasmus Andresen (Grüne) kritisierte den Kurs
des deutschen Finanzministers. «Es ist unverständlich, dass auch Olaf
Scholz am längst überholten Mantra der Stabilitätskriterien
festhalten will», sagte Andresen. Das widerspreche dem Programm
seiner Partei.

Auch mehrere nordische Länder setzen in einem am Freitag vorgelegten
Papier auf klare Haushaltsvorgaben. Unter anderem Österreich und die
Niederlande betonten, dass der Rückgang von exzessiven Schulden das
gemeinsame Ziel bleiben müsse. Sie schlugen nur leichte Änderungen
der Regeln vor: «Insbesondere Vereinfachungen oder Anpassungen, die
eine konsistente, transparente und bessere Anwendung und Durchführung
der Regeln begünstigen, sind es wert, diskutiert zu werden.»

Mehrere Minister begrüßten einen Vorstoß, bestimmte Investitionen f
ür
den Umwelt- und Klimaschutz aus den Haushaltsregeln auszuschließen.
«Das ist eine Debatte wert», sagte Le Maire. Es gebe eine
Notwendigkeit insbesondere für Investitionen in den Übergang zu einer
grüneren und digitalen Wirtschaft. «Es ist wichtig, dass wir
verstehen, dass es heute nicht nur darum geht, wie wir unseren
Haushalt begrenzen, aber auch wie wir in unsere Zukunft investieren»,
sagte der belgische Finanzminister Vincent Van Peteghem.

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt der EU sieht vor, dass EU-Länder
nicht mehr als 60 Prozent der Wirtschaftsleistung an Schulden
aufnehmen. Haushaltsdefizite sollen bei 3 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts gedeckelt werden. Zu Beginn der Corona-Pandemie
war allerdings schnell klar, dass die Staaten erheblich Schulden
machen, um durch Ausgaben die Krise abzufedern. Daher wurde die
«allgemeine Ausweichklausel» des Pakts aktiviert, die die
Haushaltsregeln außer Kraft setzte. Die durchschnittliche
EU-Schuldenquote liegt inzwischen laut dem Papier der nordischen
Länder bei fast 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts - im Vergleich
zu rund 80 Prozent 2019.

Die «allgemeine Ausweichklausel» soll eigentlich Ende 2022 wieder
deaktiviert werden. Einige Länder finden die Haushaltsregeln
angesichts der hohen Schuldenquote vieler Länder jedoch veraltet und
fordern eine Reform vor Ende der Frist. Eine Konsultation zu einer
möglichen Reform ist von der EU-Kommission im Herbst geplant.

Ein weiterer Konflikt könnte sich bei der Definition von grünen
Projekten innerhalb der sogenannten EU-Taxonomie anbahnen. Hier geht
es um ein einheitliches und transparentes System zur Einordnung
ökologisch nachhaltiger Wirtschaftsaktivitäten. Le Maire möchte
Atomkraft als klimafreundliche Investition kategorisieren.

«Es gibt keinen Grund, warum die Nuklearenergie nicht bis zum Ende
des Jahre in der europäischen Taxonomie beinhaltet werden sollte»,
sagte er. Die Bundesregierung ist allerdings gegen eine Förderung der
Kernkraft als grüne Technologie durch die EU, wie aus einer Antwort
des Umweltministeriums an die Bundestagsabgeordnete Franziska
Brantner hervorgeht, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt.

Bei dem zweitägigen Treffen im slowenischen Kranj kamen zunächst die
Finanz- und Wirtschaftsminister der Euro-Länder am Morgen zusammen.
Am Nachmittag stießen die Minister der Nicht-Euro-Länder hinzu.