Merkels Besuch am Balkan gilt einer Region mit vielen Baustellen Von Gregor Mayer, dpa

13.09.2021 04:45

Am Ende ihrer Amtszeit reist die Bundeskanzlerin in einen Teil
Europas, den der Westen zuletzt vernachlässigt hat. Viele fragen
sich: Ist es eine bloße Abschiedstour - oder will Merkel mehr?

Belgrad (dpa) - Wenige Wochen vor ihrem Ausscheiden aus der
Bundesregierung reist Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Serbien und
Albanien. In Belgrad trifft sie am Montagabend den serbischen
Präsidenten Aleksandar Vucic. Am Tag darauf spricht sie in Tirana mit
dem albanischen Ministerpräsidenten Edi Rama. Bei einem Mittagessen
in Tirana kommt die Bundeskanzlerin mit den Regierungschefs der sechs
Westbalkan-Staaten zusammen.

Im Mittelpunkt stehen nach Angaben der Bundesregierung «Fragen der
regionalen Zusammenarbeit». Es ist dies eine mehr als vorsichtige
Umschreibung für den Berg an Problemen, der sich in Serbien,
Albanien, Bosnien-Herzegowina, Nordmazedonien, Montenegro und Kosovo
über die Jahre aufgetürmt hat. Von deutschen Diplomaten in der Region
ist zu hören: Die Bundeskanzlerin wolle sich am Ende ihrer Amtszeit
mehr um die Westbalkan-Staaten kümmern, vielleicht sogar ein paar
Pflöcke für die nachfolgende deutsche Regierung einschlagen.

Alle sechs Länder haben, wie es heißt, eine EU-Beitrittsperspektive,
sind aber im bisherigen Prozess der Annäherung nicht besonders weit
gekommen. Praktisch überall mangelt es - in unterschiedlicher
Ausprägung - an Rechtsstaatlichkeit und an fachlicher Kompetenz der
Verwaltungen. Korruption und Nepotismus grassieren. Unabhängige
Medien und kritische Zivilvereine geraten zunehmend unter Druck.
Autoritäre Tendenzen setzen sich da und dort durch.

Zugleich hat der Westen sein Engagement auf dem Balkan über die
letzten Jahre deutlich zurückgefahren. Äußere Akteure drängten in d
ie
Region: Russland, China und die Türkei betrachten sie als Schachbrett
für ihre geostrategischen Auseinandersetzungen mit dem Westen. Die
oft verworrene Außenpolitik des inzwischen abgewählten US-Präsidenten

Donald Trump verstärkte den Trend.

Sein Nachfolger Joe Biden gilt als exzellenter Kenner des Balkans,
setzte sich etwa als US-Senator gegen die serbische Aggression im
Bosnien-Krieg (1992-1995) ein. «Die internationale Gemeinschaft wird
sich mehr um den Westbalkan kümmern», sagte der neue Hohe
Repräsentant der internatioalen Gemeinschaft in Bosnien, Christian
Schmidt, jüngst der Nachrichtenagentur dpa in Sarajevo. Der deutsche
Ex-Politiker mit exzellenten Beziehungen nach Washington ist seit
Anfang August in seinem neuen Amt. Es gilt als offenes Geheimnis,
dass Merkel seine Ernennung vorgeschlagen hatte - und Biden ihr gerne
zustimmte. 

Grundsätzlich genießt die Bundeskanzlerin in der Region ein hohes
Ansehen. Vucic, der sein eigenes Land zunehmend autoritär regiert,
schwärmt von ihr in höchsten Tönen. Andere Führungspolitiker der
Region schätzen ihre Sachlichkeit und Kompetenz. Dabei ist Merkels
Bilanz auf dem Balkan eher durchwachsen. Der von ihr 2014 geschaffene
«Berlin-Prozess» brachte im zivilen Bereich einiges auf den Weg, so
etwa die Gründung eines regionalen Jugendwerks nach
deutsch-französischem Vorbild. Auch waren es Merkel und ihre
Diplomaten, die sich den ab 2018 lancierten Teilungsplänen für das
Kosovo entgegenstemmten - und sie stoppten.

Zugleich steht Merkel auf dem Balkan für eine Politik, die deutsche
Wirtschafts-  und Stabilitätsinteressen mitunter über Demokratie und

Rechtsstaatlichkeit stellt - ein Muster, das sich auch an ihrem
zurückhaltenden Umgang mit dem ungarischen Rechtstaatssünder Viktor
Orban erkennen lässt. Vucic, ihr Gastgeber am Montag, regiert in
Serbien inzwischen praktisch ohne Opposition. Seine Diplomaten und
Geheimdienstler unterstützen Kritikern zufolge serbische Separatisten
in Bosnien und Montenegro. Gegenüber Berlin bietet er sich jedoch als
Garant für eine Stabilität an, die angeblich deutschen Interessen
dienen soll.