Licht und Schatten über Merkels letzter Balkan-Reise Von Gregor Mayer, dpa

13.09.2021 21:19

Die Besuche in Serbien und Albanien werfen die Frage nach dem
Vermächtnis einer 16-jährigen Kanzlerschaft auf. Doch auf dem Balkan
ist nicht alles einfach schwarz oder weiß. Einige Potentaten behalten
Angela Merkel jedenfalls in guter Erinnerung.

Belgrad (dpa) - Mit militärischen Salutschüssen, die über die
Wohnstadt Neu-Belgrad hinwegdonnerten, hat der serbische Präsident
Aleksandar Vucic am Montag Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU)
empfangen. Wenige Wochen vor ihrem Ausscheiden aus der Politik
kündigte sich die deutsche Regierungschefin zu einer zweitägigen
Visite in Serbien und Albanien an. Sie gilt der gesamten Region: Am
Dienstag redet sie in Tirana mit den Regierungschefs aller sechs
Westbalkan-Staaten, also Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina,
Nordmazedonien, Albanien und Kosovo.

Bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Vucic im Palast Serbiens -
dem ehemaligen Regierungspalast des viel größeren ehemaligen
sozialistischen Jugoslawiens - wurde klar: Es geht um Abschiednehmen,
aber auch um das Vermächtnis einer 16-jährigen Kanzlerschaft und um
den Blick auf eine Region, die für Europa nach wie vor wichtig ist,
auch wenn sie von Europa zuletzt ein wenig vernachlässigt wurde.

«Europa hat ein absolutes geo-strategisches Interesse, diese Länder
in die EU aufzunehmen», brachte es Merkel auf den Punkt. Die sechs
Länder streben eine EU-Mitgliedschaft an, haben aber noch einen
weiten Weg vor sich. Praktisch überall mangelt es - in
unterschiedlicher Ausprägung - an Rechtsstaatlichkeit und an
fachlicher Kompetenz der Verwaltungen. Korruption und Nepotismus
grassieren. Unabhängige Medien und kritische Zivilvereine geraten
zunehmend unter Druck. Autoritäre Tendenzen setzen sich da und dort
durch.

Merkel verweist an diesem Montagabend auf kleine Fortschritte, die
die düstere Bilanz ein wenig aufhellen. 2014 brachte sie den
sogenannten Berliner Prozess auf den Weg, ein neues Gesprächsforum.
Es soll die in der Vergangenheit oft verfeindeten Westbalkan-Länder
einander näherbringen. Den EU-Beitrittsprozess ersetze es nicht,
beeilte sich Merkel zu betonen. «Aber die Gesprächsbereitschaft in
der Region hat massiv zugenommen, und das hilft beim Beitritt», fügte
sie hinzu. Beobachter werten die Gründung eines regionalen
Jugendwerks nach deutsch-französischem Vorbild als greifbares, gutes
Ergebnis des Berlin-Prozesses.

Vucic verhehlte wiederum nicht, wie sehr er die scheidende Kanzlerin
verehrt: «Sie ist eine Autorität, der jeder in der Region gerne
zuhört.» Auch bei Meinungsunterschieden bleibe sie eine
Pragmatikerin, die «für jeden ein offenes Ohr» habe. Er lobte auch
ihr Engagement für die Wirtschaft. «Ihr verdanken wir, dass sich der
deutsch-serbische Außenhandel seit 2014 verdreifacht hat», schwärmte

er.

Im eigenen Land kehrt Vucic, der seit 2012 die Politik dominiert,
eher die autoritäre Seite hervor. Seit letztem Sommer regiert er
praktisch ohne Opposition. Kritiker und unabhängige Stimmen sehen
sich brutalen Angriffen seitens der von Vucic-Leuten kontrollierten
Boulevard-Medien konfrontiert. Seine Diplomaten und Geheimdienstler
unterstützen Kritikern zufolge serbische Nationalisten in Bosnien und
Montenegro.

Insofern sehen serbische Oppositionelle Merkels zuvorkommende
Aufmerksamkeit für Vucic in einem kritischen Licht. Er erwarte sich
nichts von ihrem Besuch, meinte Andrej Ivanji, Redakteur der
oppositionellen Wochenzeitung «Vreme». «Das ist alles nur eine
Politik der symbolischen Schritte.»

Noch harscher drückten es Aktivisten der Bürgerbewegung Preokret
(Kehrtwende) aus. Vor dem Palast Serbiens entrollten sie ein Plakat
mir der deutschen Aufschrift: «Gehen Sie endlich Frau Merkel. Seit 9
Jahren unterstützen Sie die Diktatur.»