Ära der Rivalitäten: Von der Leyen will EU agiler machen

15.09.2021 12:29

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sieht auf die
Europäische Union große Herausforderungen zukommen. Hat die Deutsche
dafür die richtigen Konzepte? In der diesjährigen Rede zur Lage der
Union geht es auch um militärische Fähigkeiten.

Straßburg (dpa) - Angesichts der Corona-Pandemie, der
Afghanistan-Krise und wachsender internationaler Rivalitäten will
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von Leyen die Europäische Union
deutlich handlungs- und widerstandsfähiger machen. «Wir treten in
eine neue Ära verstärkter Konkurrenz ein», sagte sie am Mittwoch in
ihrer diesjährigen Rede zur Lage der Union. Die klimapolitische und
wirtschaftliche Führungsrolle sei für die globalen und
sicherheitspolitischen Ziele Europas von zentraler Bedeutung. Man
brauche aber auch die Europäische Verteidigungsunion.

Konkret kündigte von der Leyen unter anderem an, die Herstellung von
Hochleistungschips in Europa zu stärken, um die Abhängigkeit von
asiatischen Produzenten zu beseitigen. «Während die Nachfrage
weltweit explodiert ist, hat der Anteil Europas an der gesamten
Wertschöpfungskette abgenommen, und zwar von der Produktgestaltung
bis hin zur Fertigungskapazität», kritisierte sie. Deswegen müsse man

nun Forschungs- und Entwicklungskapazitäten von Weltklasseniveau
zusammenbringen und die Investitionen der EU koordinieren.

Dies sei nicht nur eine Frage unserer Wettbewerbsfähigkeit, sondern
auch eine Frage der technologischen Souveränität. Vom Smartphone und
Elektroroller bis zu Zügen oder ganzen intelligenten Fabriken - «ohne
Chips kein digitales Produkt», sagte von der Leyen.

Um unfaire Konkurrenz aus Drittstaaten zu verhindern, soll ein
EU-weites Verbot für Produkte aus Zwangsarbeit kommen.
«Menschenrechte sind nicht käuflich - für kein Geld der Welt», sagt
e
die 62-Jährige. Weltweite Geschäfte zu machen sei gut, ebenso wie ein
globaler Handel gut und notwendig sei. Aber dies dürfe nicht auf
Kosten der Würde und der Freiheit der Menschen geschehen. Es gebe
rund 25 Millionen von Zwangsarbeit betroffene Menschen.

Als Lehre aus der Corona-Pandemie sollen in den kommenden sechs
Jahren außerdem 50 Milliarden Euro in die Gesundheitsvorsorge der
gesamten EU investiert werden. Kein Virus dürfe aus einer lokalen
Epidemie jemals wieder eine globale Pandemie machen, sagte von der
Leyen. «Es gibt keine bessere Anlage für unser Geld.»

Zugleich soll die geplante EU-Behörde Hera zur Vorsorge von
Gesundheitskrisen bald einsatzfähig sein. Die Bewältigung der
Corona-Pandemie in der EU sei ein Erfolg. Mehr als 70 Prozent der
Erwachsenen seien vollständig geimpft. Priorität müsse nun haben, das

Impfen überall auf der Welt voranzubringen. Die EU werde bis Mitte
2022 weitere 200 Millionen Impfstoffdosen spenden.

Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Afghanistan plädierte von der
Leyen für den Ausbau der Europäischen Verteidigungsunion. In ihrer
Rede warb sie so für die Idee eines gemeinsames Lage- und
Analysezentrums und schlug eine Mehrwertsteuerbefreiung beim Kauf von
Rüstungsgütern vor, die in Europa entwickelt und hergestellt wurden.

Grundsatzentscheidungen sollen nach Angaben von der Leyens in der
ersten Hälfte des kommenden Jahres bei einem mit Frankreichs
Präsidenten Emmanuel Macron organisierten «Gipfel zur Europäischen
Verteidigung» getroffen werden. Man müsse entscheiden, wie man die
Möglichkeiten des EU-Vertrags im Bereich der Verteidigung nutzen
könne, erklärte die CDU-Politikerin.

Mit Blick auf den bereits diskutierten Aufbau einer neuen EU-
Krisenreaktionstruppe mahnte von der Leyen, sich daneben auch um eine
grundsätzliche Frage zu kümmern. «Man kann die am weitesten
entwickelten Streitkräfte der Welt haben - doch wenn man nie bereit
ist, sie einzusetzen, wozu sind sie dann gut?», fragte sie. Was die
EU bisher zurückgehalten habe, seien nicht nur fehlende Kapazitäten,
sondern auch fehlender politische Wille. «Wenn wir diesen politischen
Willen entwickeln, können wir auf EU-Ebene viel tun», sagte sie.

Viel Zeit nahm sich die Kommissionschefin auch dafür, die Jugend in
den Fokus zu stellen. Sie kündigte an, 2022 zum Jahr der europäischen
Jugend auszurufen. Damit sollten die jungen Leute wertgeschätzt
werden, die während der Corona-Pandemie vieles zum Schutz anderer
geopfert hätten.

Zudem soll ein neues Austauschprogramm für junge Menschen aufgelegt
werden, die weder Ausbildung noch Job gefunden haben. Das Programm
«Alma wird diesen jungen Leuten die Möglichkeit eröffnen, zeitlich
befristet Berufserfahrung in einem anderen Mitgliedstaat zu sammeln»,
sagte von der Leyen.

Aus dem EU-Parlament kam ein geteiltes Echo auf von der Leyens Rede.
Der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei im
EU-Parlament, Manfred Weber, lobte die EU-Kommission für ihren
Einsatz gegen die Corona-Pandemie. Kein anderer Kontinent habe so
hohe Impfquoten wie die EU. «Die Krise begann in China, in Europa
haben wir die Lösung gefunden», sagte er.

Die spanische Sozialdemokratin Iratxe García Pérez zeigte sich
erfreut über die Ankündigung von der Leyens, ein Gesetz gegen Gewalt
an Frauen vorzulegen. «Seit Jahren verlangen wir dieses Gesetz»,
sagte sie. Außenpolitisch müsse die EU endlich mit einer Stimme
sprechen, das zeigten die Entwicklungen in Afghanistan.

Mehr Tempo beim Klimaschutz mahnte der Grünen-Fraktionschef Philippe
Lamberts an. «Wenn wir scheitern, gibt es keine Wirtschaft mehr, weil
der Planet nicht mehr bewohnbar sein wird», sagte er.

Harte Kritik kam vom AfD-Chef Jörg Meuthen, der für die
Rechtsaußen-Fraktion Identität und Demokratie im EU-Parlament sitzt.
Er warf von der Leyen eine «salbungsvolle Rede» vor, in der sie mit
falschem Pathos «nie zuvor gesehene Ausgabe-Orgien» angekündigt habe,

etwa für den Klimaschutz. Der «Green Deal», die
EU-Wachstumsstrategie, sei ein «beispielloser Angriff auf die
wirtschaftlichen Grundlagen unseres Kontinents», sagte Meuthen.

Gegenwind kam auch von den Linken. Fraktionschef Martin Schirdewan
forderte die EU-Kommission auf, im Interesse einer gerechteren
Impfstoffverteilung in der Welt endlich den Patentschutz für
Corona-Impfstoffe zu beenden. Es brauche zudem eine
Mindestbesteuerung für multinationale Unternehmen, «die auch Zähne
hat», und eine Finanztransaktionssteuer. Dass als Lehre aus dem
Afghanistan-Desaster eine europäische Militärunion gefordert werde,
sei falsch. Das Geld wäre besser in der Armutsbekämpfung aufgehoben,
sagte Schirdewan.