Die Angst vor dem Frost - Sorge vor humanitärer Not an EU-Außengrenze Von Doris Heimann und Michel Winde, dpa

28.09.2021 14:06

An der Grenze zwischen Belarus und Polen versuchen immer mehr
Menschen aus Krisenregionen, illegal in die EU einzureisen.
Hilfsorganisationen dürfen nicht in das Gebiet - sie warnen vor einer
humanitären Katastrophe.

Hajnowka (dpa) - Zwei schwarze Rucksäcke, ein nasser Schlafsack, ein
Paar aufgeweichte Turnschuhe. Im dichten Wald nahe einer Landstraße
bei Hajnowka im äußersten Osten Polens liegen die Überbleibsel auf
Moos und herbstlichen Blättern. «Vermutlich war es ein hektischer
Aufbruch - wer weiß, wo diese Menschen jetzt sind», sagt Maria
Zlonkiewicz. Die 36-jährige Menschenrechtlerin kramt in einem der
Rucksäcke: Medikamente aus dem Irak und der Türkei, ein
Handy-Ladegerät, Kekse und Rheumapflaster mit russischen und
belarussischen Aufschriften. Es sind Spuren von Migranten aus dem
Nahen Osten. Tausende von ihnen versuchen derzeit, über Belarus
illegal in die EU einzureisen. Viele wollen weiter nach Deutschland
und andere westliche Länder.

Polen setzt auf Härte: In der Region um die EU-Außengrenze gilt der
Ausnahmezustand, Hilfsorganisationen und Journalisten dürfen nicht
hinein, die meisten Migranten werden abgewiesen. Die Regierung in
Warschau beschuldigt den belarussischen Machthaber Alexander
Lukaschenko, die Flüchtlinge organisiert an die EU-Außengrenze zu
schaffen - als Reaktion auf verschärfte westliche Sanktionen gegen
sein Land. In dem einsamen, sumpfigen Grenzgebiet sind in den
vergangenen Wochen bereits mehrere Migranten gestorben.

Es könnten noch mehr Tote werden, wenn die Nachtfröste einsetzen,
fürchtet Maria Zlonkiewicz. «Wir appellieren an die polnische
Regierung, Ärzte und Sanitäter an die Grenze zu lassen. Sonst werden
wir im Frühjahr viele Leichen finden.» Zlonkiewicz vertritt das
Aktionsbündnis «Gruppe Grenze» zu dem sich polnische
Flüchtlingshilfe-Organisationen zusammengetan haben. Die Aktivisten
gehen in der Nähe der Grenze durch die Wälder. Sie versuchen,
Migranten aufzuspüren, ihnen Nahrungsmittel, warme Kleidung und
Rettungsdecken zu geben. Etwa 50 Menschen konnten sie bislang helfen.

Den Kontakt zu den Helfern finden die Flüchtlinge über soziale
Medien. «Wir sind auf Internetforen präsent, wo für die vermeintlich

sichere Passage über Belarus geworben wird», erzählt Aktivistin
Aleksandra Gulinska (34). Mehrfach am Tag und in der Nacht würden
sich mittlerweile umherirrende Flüchtlingsgruppen melden.

Die Menschenrechtler sehen Anzeichen dafür, dass Polens Grenzschützer
Migranten nach Belarus abschieben - sogenannte Pushbacks. «Wir
bekommen Signale von Flüchtlingsgruppen, die erst auf der polnischen
Seite der Grenze sind, dann wieder auf der belarussischen», sagte
Aleksandra Gulinska. Durch den Ausnahmezustand, der auf einem
Streifen von drei Kilometern gilt, dürfen die Helfer jedoch nicht an
die Grenze und können die wohl illegalen Pushbacks nicht
dokumentieren.

Die Hilfsorganisationen kommen auch nicht heran an eine Gruppe von 32
Migranten, die seit mehreren Wochen in der Nähe des polnischen Dorfs
Usnarz Gorny in einem Wald auf belarussischem Grenzgebiet campiert.

Rund 4000 Grenzschützer, 2500 Soldaten und 600 Polizisten sind an
Polens 418 Kilometer langer Grenze zu Belarus im Einsatz. In den
Wäldern um Hajnowka gibt es Checkpoints - nicht nur am Beginn der
Sperrzone, auch auf Landstraßen und Forstwegen. Die Lage an der
Grenze sei ernst, sagt Innenminister Mariusz Kaminski. Der
Ausnahmezustand soll um weitere 60 Tage verlängert werden.

In Brüssel blickt man mit großer Sorge auf die angespannte Lage an
der Grenze. Auf der einen Seite sieht EU-Innenkommissarin Ylva
Johansson einen «Akt der Aggression» des belarussischen Machthabers,
der die EU destabilisieren wolle. Zugleich sagt die Schwedin: «Es ist
völlig inakzeptabel, dass Menschen an unseren Außengrenzen sterben.»

Sie fordert Transparenz von der Regierung in Warschau. Polen müsse
die EU-Außengrenzen schützen - zugleich müsse es sich aber an
EU-Recht und die Grundrechte halten. Darüber würde sie gerne mit dem
polnischen Innenminister Kaminski sprechen.

Doch die Zusammenarbeit zwischen Polen und der EU-Kommission läuft
alles andere als rund. Um die Lage besser einschätzen zu können, sähe

die Brüsseler Behörde gerne die EU-Grenzschutztruppe Frontex an der
Grenze. Ein solcher Einsatz aber müsste von Polens Regierung
angefordert werden - und die denkt bislang gar nicht daran. Zudem
bemühte sich Johanssons Team tagelang vergeblich um ein Gespräch
zwischen Kaminski und der EU-Kommissarin. Am Donnerstag will sie nun
nach Warschau reisen. Dann könnte es nach tagelanger Funkstille zu
einem Austausch kommen. «Ich möchte gerne mehr darüber wissen, was
passiert ist», sagt Johansson.

Die nationalkonservative Regierung in Warschau mache den Menschen
Angst vor den Flüchtlingen, kritisiert die EU-Parlamentarierin Janina
Ochojska, Gründerin der «Polnischen humanitären Aktion». Dabei kö
nnte
sich Polen die Aufnahme der rund 10 000 Migranten, die sich nach
Erkenntnissen des Grenzschutzes in Belarus befinden sollen, durchaus
leisten. «Ich bin mir sogar sicher: Die meisten Polen würden diesen
Menschen gerne helfen.»