Brexit-Streit um Nordirland: London will «intensive Gespräche»

14.10.2021 20:40

Die EU-Kommission hat mit einem ausgefeilten Vorschlagspaket den
ersten Schritt auf die Briten im Streit um das Nordirland-Protokoll
zugemacht. Nun soll ausgelotet werden, ob es einen gemeinsamen Nenner
gibt.

Belfast/London (dpa) - Nach Vorstellung eines ganzen Pakets an
Vorschlägen aus Brüssel zur Lösung des Streits um die Brexit-Regeln
für Nordirland hat die Regierung in London «intensive Gespräche» mi
t
EU-Vertretern angekündigt. Am Freitag werde sich der Brexitminister
David Frost mit dem EU-Brexit-Beauftragten Maros Sefcovic in Brüssel
treffen, wie ein Regierungssprecher am Donnerstagabend mitteilte.
Gleichzeitig erneuerte ein Regierungssprecher aber auch die Kritik
Londons am Europäischen Gerichtshof als Kontrollinstanz zur
Einhaltung des sogenannten Nordirland-Protokolls - und erntete prompt
Gegenwind von EU-Seite.

Sefcovic hatte am Mittwochabend erhebliche Erleichterungen für den
Warenverkehr zwischen Großbritannien und Nordirland in Aussicht
gestellt. Die Checks zu Qualitätsstandards bei Lebensmitteln und
andere Waren sollen dadurch um bis zu 80 Prozent verringert werden.
Medikamente sollen ohne Einschränkungen in die britische Provinz
gelangen können. Zollformalitäten sollen um die Hälfte verringert
werden. Für landestypische Produkte wie Würstchen soll es Ausnahmen
geben.

Das zum Vereinigten Königreich gehörende Nordirland hat durch das
Brexit-Abkommen einen Sonderstatus erhalten. Anders als England,
Schottland und Wales unterliegt die Provinz weiterhin den Regeln des
europäischen Binnenmarkts und der Zollunion. Hintergrund ist, dass
die Grenze zum EU-Mitglied Republik Irland offen bleiben soll, um
einen neuerlichen Ausbruch des gewalttätigen Konflikts zwischen
Befürwortern einer Wiedervereinigung der beiden Teile Irlands und den
Anhängern der Union Nordirlands mit Großbritannien zu verhindern.

Weil die britische Regierung sich aber von EU-Standards lösen und
neue Handelsabkommen in aller Welt schließen will, wurden
Warenkontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland vereinbart.
Das führte teilweise zu Schwierigkeiten im innerbritischen Handel.
London erklärte das Protokoll daher für gescheitert und verlangte
eine Neuverhandlung.

Die EU-Kommission sei mit ihren Vorschlägen einen Schritt
weitergegangen als bisher und habe «nie dagewesene» Maßnahmen
ergriffen, um den durch den Brexit entstandenen Problemen in
Nordirland zu begegnen, sagte der EU-Botschafter in London, João Vale
de Almeida, im BBC-Fernsehen am Mittwochabend.

Die Kritik der britischen Regierung an der Rolle des Europäischen
Gerichtshofs wies Almeida jedoch zurück. Die Rechtsprechung des
Europäischen Gerichtshofs sei eine Grundvoraussetzung für den Zugang
Nordirlands zum Europäischen Binnenmarkt. «Ohne Europäischen
Gerichtshof gibt es keinen Binnenmarkt», erklärte der Diplomat.

Auch Irlands Premier Micheal Martin lobte den Vorstoß der EU. «Es ist
ein ernsthafter, hart erarbeiteter, einfühlsamer und engagierter
Ansatz» sagte der irische Regierungschef. Sefcovic habe sich mit
allen Seiten in Nordirland beraten, sagte Martin weiter.

Ob die britische Seite es tatsächlich ernst meint, wurde am
Donnerstag erneut in Zweifel gezogen: Premierminister Boris Johnson
habe bereits vor Unterzeichnung des Nordirland-Protokolls deutlich
gemacht, dass er sich nicht daran halten wolle, berichtete ein
nordirischer DUP-Abgeordneter im Gespräch mit der BBC. «Boris Johnson
hat mir persönlich gesagt, dass er sich nach Zustimmung zu dem
Protokoll dafür einsetzen werde, es zu ändern und sogar in Stücke zu

reißen», sagte Ian Paisley.

Zweifel an der Aufrichtigkeit der britischen Regierung hatte vor
wenigen Tagen auch Johnsons ehemaliger Chefberater Dominic Cummings
gesät. Er selbst habe nie vorgehabt, sich an das Protokoll zu halten,
so der inzwischen im Streit ausgeschiedene Ex-Regierungsberater auf
Twitter.