Scholz warnt vor Bruch der Brexit-Sonderregeln für Nordirland

10.05.2022 19:38

Nordirland war stets ein Knackpunkt in den Brexit-Verhandlungen
zwischen Großbritannien und der EU. Schließlich fanden beide Seiten
eine Lösung - doch damit ist London schon lange nicht mehr glücklich.
Nun droht die Eskalation.

Brüssel/Dublin/Belfast (dpa) - Im Streit um Brexit-Sonderregeln für
Nordirland steigt die Spannung. Bundeskanzler Olaf Scholz warnte am
Dienstag die britische Regierung vor einer Aufkündigung der
Vereinbarung. «Wir haben einen guten Weg gefunden für Nordirland. Und
niemand sollte die Regelung, die wir miteinander vereinbart haben,
einseitig außer Kraft setzen, brechen oder auf irgendeine andere
Weise damit umgehen», sagte der SPD-Politiker nach einem Treffen mit
dem belgischen Ministerpräsidenten Alexander De Croo in Berlin.

Es handele sich um eine komplizierte Frage, bei der es nicht nur um
die Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien gehe, sondern auch
um eine friedliche Entwicklung in der Region. «Ich glaube, das sind
schon gute Regelungen, die da miteinander vereinbart worden sind.»
Ähnlich äußerte sich De Croo: «Wenn diese Vereinbarung widerrufen
würde, dann glaube ich, würde das ganze System widerrufen.»

EU-Kommissionsvizepräsident Maros Sefcovic machte deutlich, dass eine
Neuverhandlung des sogenannten Nordirland-Protokolls aus dem
Brexit-Abkommen nicht zur Debatte steht. Darin sei sich die EU einig,
sagte Sefcovic am Dienstag einer Mitteilung zufolge. Auch er warnte
London davor, einseitige Schritte zu unternehmen.

Das Protokoll sei integraler Bestandteil einer «positiven und
stabilen Beziehung» zwischen der Europäischen Union und dem
Vereinigten Königreich, so Sefcovic. Brüssel sei offen, weiterhin
über die Umsetzung der Vereinbarung zu verhandeln. Dazu sei aber
notwendig, dass London «im selben Maß Entschlossenheit und
Kreativität an den Tag legt».

Auch die irische Regierung in Dublin richtete am Dienstag mahnende
Worte an den britischen Premierminister Boris Johnson.
Vizeregierungschef Leo Varadkar sagte dem irischen Rundfunk RTÉ, es
handele sich um einen internationalen Vertrag. London müsse seinen
Verpflichtungen nachkommen. Die Vorsitzende des
Binnenmarktausschusses im EU-Parlament, Anna Cavazzini (Grüne),
sagte, ein Bruch des Abkommens widerspreche den Wünschen der Menschen
in der britischen Provinz.

Wie die Zeitung «Times» berichtete, will London die Vereinbarung im
Brexit-Abkommen außer Kraft setzen. Außenministerin Liz Truss sehe
keinen Sinn mehr in Verhandlungen mit der EU, schrieb das Blatt.
Vielmehr wolle sie alle Warenkontrollen zwischen Großbritannien und
Nordirland aufheben. Dafür gab es zunächst keine Bestätigung. Für d
en
Fall einer einseitigen Aufkündigung befürchten Beobachter einen
erbitterten Handelskrieg zwischen London und Brüssel.

«Die immer weitere Eskalation des Zollstreits mit der EU ist für
Johnson ein Ablenkungsmanöver von seiner innenpolitischen Misere nach
Partyskandalen und dem mauen Abschneiden seiner Partei (bei
Kommunalwahlen)», sagte Cavazzini der Deutschen Presse-Agentur. Sie
mahnte, die EU dürfe «nicht auf diesen Trick reinfallen».

Das Nordirland-Protokoll soll Kontrollen an der Grenze zum
EU-Mitglied Republik Irland vermeiden und neue Konflikte zwischen
Befürwortern und Gegnern einer Vereinigung der beiden Teile Irlands
verhindern. Dafür müssen nun aber Waren kontrolliert werden, wenn sie
von Großbritannien nach Nordirland gebracht werden. Anhänger der
Union fürchten, dass dies zu einer Entfremdung führt.

Ein Sprecher Johnsons sagte nach einem Gespräch des Premiers mit dem
irischen Regierungschef Micheal Martin, die Situation sei sehr ernst
und gefährde den als Karfreitagsabkommen bekannten Friedensschluss
von 1998. Johnson hatte das Abkommen selbst unterzeichnet und
zunächst als großen Erfolg verkauft. Nach seinem Wahlsieg Ende 2019
begann er aber, die Vereinbarung infrage zu stellen. Die Wahlen zum
nordirischen Regionalparlament vergangene Woche hätten gezeigt, dass
das Protokoll in seiner jetzigen Form nicht nachhaltig sei, sagte
sein Sprecher. Allerdings unterstützt eine Mehrheit der neu gewählten
nordirischen Abgeordneten die Vereinbarung mit der EU.

Der Streit hemmt auch die Regierungsbildung in der früheren
Bürgerkriegsregion. Laut dem Karfreitagsabkommen müssen sich die
jeweils stärksten Parteien der beiden konfessionellen Gruppen auf
eine Einheitsregierung einigen. Die protestantisch-unionistische DUP
will aber nur mit der katholisch-republikanischen Wahlsiegerin Sinn
Fein zusammenarbeiten, wenn das Protokoll aufgehoben wird.

Johnson schaltete sich am Dienstag erstmals in die Debatte ein und
telefonierte mit nordirischen Spitzenpolitikern. DUP-Chef Jeffrey
Donaldson mahnte die britische Regierung anschließend zu
entschiedenem Handeln. Worte alleine lösten den Streit nicht, sagte
er. Sinn-Fein-Spitzenkandidatin Michelle O'Neill forderte hingegen
Johnson auf, Druck auf die DUP auszuüben. Es müsse dringend eine
Regierung gebildet werden, twitterte sie. Die Menschen in Nordirland
dürften nicht als Sündenbock für den Streit zwischen London und
Brüssel herhalten.