Reporterin im Westjordanland erschossen - Sender hält Israel Mord vor

11.05.2022 16:40

Dschenin im besetzten Westjordanland gilt als Hochburg militanter
Palästinenser. Während einer Razzia des israelischen Militärs wird
eine bekannte TV-Journalistin getötet. Ihr Sender macht Israel
Mordvorwürfe. Die Armee untersucht den Hintergrund.

Ramallah/Tel Aviv (dpa) - Eine Reporterin des TV-Senders Al-Dschasira
ist am Mittwoch während eines israelischen Militäreinsatzes im
Westjordanland durch Schüsse getötet worden. Wie genau die in der
arabischen Welt bekannte Journalistin Schirin Abu Akle ums Leben kam,
blieb zunächst unklar.

Die israelische Armee berichtete, es habe ein heftiges Feuergefecht
mit Dutzenden militanten Palästinensern während einer Razzia in
Dschenin gegeben. Möglicherweise sei die 51-Jährige von Kugeln der
Palästinenser getroffen worden. Generalstabschef Aviv Kochavi sagte
allerdings, gegenwärtig könne man nicht festlegen, welche Seite für
die tödlichen Schüsse verantwortlich sei. Al-Dschasira warf Israel
dagegen einen gezielten, kaltblütigen Mord vor. Auch
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas sprach von einem «Verbrechen der

Hinrichtung».

Das palästinensische Gesundheitsministerium hatte mitgeteilt, die
Journalistin - die auch US-Bürgerin war - sei durch Schüsse tödlich
am Kopf verletzt worden. Ein anderer Journalist, der auch für
Al-Dschasira arbeitet, sei bei dem Vorfall angeschossen worden.

Israels Ministerpräsident Naftali Bennett wies die Vorwürfe von Abbas
zurück; sie hätten keine «solide Basis». Der UN-Nahost-Beauftragte

Tor Wennesland verurteilte die Bluttat und forderte «eine umgehende
und vollständige Untersuchung». Auch die USA sprachen sich für eine
Untersuchung aus. Die arabische Liga machte «israelische Kugeln» für

den Tod der Journalistin verantwortlich und forderte ebenfalls eine
Untersuchung.

Auch die EU forderte eine umfassende und unabhängige Ermittlung,
damit die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden könnten.
Es sei nicht hinnehmbar, dass Journalisten bei der Ausübung ihrer
Arbeit angegriffen würden, hieß es in einer Mitteilung des
außenpolitischen Sprechers.

Al-Dschasira schrieb, die Reporterin habe über die Razzia berichtet
und dabei eine Weste mit der gut lesbaren Aufschrift «Presse»
getragen. Die Palästinenserin aus Ost-Jerusalem war schon seit mehr
als 20 Jahren für den katarischen Sender im Einsatz. Besonders in der
arabischen Welt war sie für ihre Berichterstattung über den
Nahost-Konflikt sehr bekannt. Al-Dschasira verurteilte die tödlichen
Schüsse als «abscheuliches Verbrechen, dessen Ziel es war, die Medien
an der Berichterstattung zu hindern».

Der verletzte Journalist, Ali al-Samudi, sagte laut der
palästinensischen Nachrichtenagentur Wafa, er und weitere
Journalisten seien von israelischen Soldaten gezielt beschossen
worden. Diese hätten ihn und Abu Akle getroffen. Die Soldaten hätten
gewusst, dass an dem Ort, wo sie sich befanden, nur Journalisten
gewesen seien und keine bewaffneten Männer. Alle Journalisten hätten
Presse-Westen getragen. Es habe dort auch keine Konfrontationen
gegeben.

Israels Außenminister Jair Lapid bot den Palästinensern eine
gemeinsame Untersuchung und Obduktion an. Ein Armeesprecher sagte,
das Militär habe eine gründliche Untersuchung des Vorfalls
eingeleitet. Soldaten seien in Dschenin gewesen, um ein Mitglied der
islamistischen Hamas-Organisation festzunehmen. «Dutzende bewaffneter
Palästinenser schossen auf die Truppen», sagte er. Sie hätten dabei
rücksichtslos Schüsse in verschiedene Richtungen abgegeben. In drei
Fällen habe es direkte Feuergefechte gegeben, etwa zu der Zeit, als
die Journalistin getötet wurde.

Die Soldaten hätten zurück in die Richtung gefeuert, aus der
geschossen wurde, und es seien Treffer identifiziert worden, teilte
die Armee mit. Man untersuche die Möglichkeit, dass die Journalisten
durch bewaffnete Palästinenser getroffen wurden. «Die israelische
Armee würde niemals absichtlich auf Unbeteiligte schießen», sagte ein

Sprecher.

Am Mittwoch erschossen zudem nach palästinensischen Angaben
israelische Soldaten bei Ramallah einen 18-Jährigen. Der junge Mann
sei ins Herz getroffen worden, teilte das Gesundheitsministerium mit.
Die israelische Armee teilte dagegen mit, Palästinenser hätten Steine
auf einen Militärposten geworfen. Soldaten hätte daraufhin Geschosse
mit Hartgummi-Mantel abgefeuert.

Bei einer Terrorwelle sind seit Ende März in Israel 17 Menschen
getötet worden, ein israelischer Wachmann im Westjordanland wurde
außerdem von Palästinensern erschossen. Bei drei der jüngsten
Anschläge stammten die Täter aus Dschenin und Umgebung. Israels Armee
verstärkte seit Beginn der Anschlagswelle ihre Einsätze im besetzten
Westjordanland.

Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums sind seit
Ende März mehr als 20 Palästinenser getötet worden. Mehrere
Palästinenser wurden bei Militäreinsätzen getötet, aber auch bei
ihren eigenen Anschlägen und Zusammenstößen mit der Armee.

Israel hatte 1967 unter anderem das Westjordanland und Ost-Jerusalem
erobert. Die Palästinenser wollen die Gebiete dagegen für einen
eigenen Staat Palästina mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt.