London will sich über europäisches Menschenrechtsgericht hinwegsetzen

22.06.2022 16:08

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte soll in Großbritannien

nach dem Willen der Regierung nicht mehr das letzte Wort haben.
Beschlüsse sollen teilweise ignoriert werden können. Die Opposition
sieht darin einen Angriff auf verbürgte Menschenrechte.

London (dpa) - Die britische Regierung will den Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte nicht mehr als letzte Instanz in
Menschenrechtsfragen akzeptieren. Das machte der britische
Justizminister Dominic Raab am Mittwoch im Parlament in London bei
der Vorstellung eines entsprechenden Gesetzentwurfs deutlich.

Das als Bill of Rights bezeichnete Gesetz werde sicherstellen, dass
der britische Supreme Court in Menschenrechtsfragen künftig das
letzte Wort habe, sagte Raab im Unterhaus. Zudem solle das geplante
Gesetz auch dafür sorgen, dass einstweilige Verfügungen des Gerichts
mit Sitz in Straßburg in Großbritannien nicht mehr bindend seien.
Ziel sei es, die britische Tradition der Freiheit zu stärken und dem
System «eine gute Dosis gesunden Menschenverstands» einzuhauchen.

Hintergrund ist, dass in der vergangenen Woche der Gerichtshof für
Menschenrechte einen ersten Flug mit Asylsuchenden aus Großbritannien
nach Ruanda im Rahmen einer neuen Flüchtlingspolitik per
einstweiliger Verfügung gestoppt hatte. Die Regierung in London hatte
sich empört geäußert, da britische Gerichte zuvor in allen Instanzen

Anträge für einen Stopp des Flugs abgelehnt hatten.

Die Regierung von Premierminister Boris Johnson will Menschen von der
illegalen Einreise in kleinen Booten über den Ärmelkanal abhalten,
indem sie ihnen den Zugang zu einem Asylverfahren in Großbritannien
verweigert. Stattdessen sollen die Migranten nach Ruanda geschickt
werden und dort Asyl beantragen. Eine Rückkehr ist nicht vorgesehen.
Ein entsprechendes Abkommen hatte Innenministerin Priti Patel im
April unterzeichnet. London hatte zugesagt, dem ostafrikanischen Land
dafür zunächst 120 Millionen Pfund (knapp 140 Millionen Euro) zu
überweisen.

Johnson wollte noch am Mittwoch zum Treffen der Staats- und
Regierungschefs des Commonwealths in die ruandische Hauptstadt Kigali
aufbrechen. Erwartet wird, dass er dort mit Thronfolger Prinz Charles
zusammentrifft. Der Royal soll die neue Asylpolitik Berichten zufolge
als «entsetzlich» bezeichnet haben.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist ein europäisches
Gericht, aber keines der Europäischen Union. Stattdessen gehört es
zum Europarat, wo auch Großbritannien bislang weiterhin Mitglied ist.
Vor dem Gerichtshof können wegen des Verdachts auf Verstöße gegen die

Europäische Menschenrechtskonvention Klagen gegen alle 46
Mitgliedsstaaten eingereicht werden.

Einen Austritt aus der Menschenrechtskonvention, wie ihn zuletzt
Russland vollzogen hat, und den konservative Politiker in
Großbritannien immer wieder fordern, lehnt die Regierung bislang ab.
Hintergrund ist unter anderem, dass die Teilnahme an der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK) ausdrücklich in dem als
Karfreitagsabkommen bezeichneten Friedensschluss in Nordirland und
dem Brexit-Handelsabkommen zwischen London und Brüssel vorgesehen
ist.

Doch statt eines Austritts droht nun die Aushöhlung, fürchten
Kritiker. Die Opposition kritisierte das Gesetzesvorhaben scharf. Die
rechtspolitische Sprecherin der Labour-Partei, Rachel Reeves,
bezeichnete den Bill of Rights als «Schwindel». Das Gesetzesvorhaben
enthebe die Regierung der Verantwortung, Menschenrechtsverstößen
vorzubeugen, sagte Reeves. Im Hinblick auf die russische Invasion in
die Ukraine sagte sie: «Was für eine erstaunliche Heuchelei von
dieser Regierung, anderen zu predigen, wie wichtig es ist, Rechte im
Ausland zu verteidigen, während sie Briten zuhause weggenommen
werden.»

Auch Menschenrechtsorganisationen zeigten sich alarmiert. Amnesty
International UK beschrieb den Plan als «riesigen Rückschritt für die

Rechte der einfachen Menschen.» Auch die Juristenvereinigung Law
Society kritisierte das Gesetzesvorhaben. Dieses führe dazu, dass
einige Menschenrechtsverletzungen in Großbritannien akzeptabel
würden, sagte die Präsidentin Stephanie Boyce der BBC zufolge.
Außerdem verleihe es dem Staat größere Macht über seine Bürger -
eine
Macht, die dann alle künftigen Regierungen hätten, unabhängig von
ihren Zielen und Werten.