Scholz will «Marshall-Plan» für den Wiederaufbau der Ukraine

22.06.2022 17:55

Nach einem baldigen Ende des Kriegs in der Ukraine sieht es nicht
aus. Trotzdem denkt Kanzler Scholz auch schon an die Zeit danach. Er
fordert ein Wiederaufbauprogramm. Vorbild soll die US-Hilfe für
Deutschland und Europa nach dem Zweiten Weltkrieg sein.

Berlin (dpa) - Bundeskanzler Olaf Scholz hat einen «Marshall-Plan»
für den Wiederaufbau der kriegszerstörten Ukraine gefordert. Ihn habe
bei seinem Besuch in Kiew in der vergangenen Woche manches an die
Bilder deutscher Städte nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert, sagte
der SPD-Politiker in einer Regierungserklärung am Mittwoch im
Bundestag. «Und wie damals das kriegszerstörte Europa braucht heute
auch die Ukraine einen Marshall-Plan für den Wiederaufbau.»
Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) warnte in der Debatte
angesichts der brutalen Kriegsführung Russlands vor der Gefahr eines
Völkermordes in der Ukraine.

Mit ihrem Marshall-Plan hatten die USA zwischen 1948 und 1952
Deutschland und anderen europäischen Staaten geholfen, nach sechs
Jahren Krieg wieder auf die Beine zu kommen. Viele Milliarden
US-Dollar wurden in den Wiederaufbau gesteckt.

In seiner Rede zu den Gipfeln von EU, G7 und Nato in den nächsten
acht Tagen sagte Scholz der Ukraine auch weitere Waffenlieferungen
zu. Den Nato-Staaten des östlichen Bündnisgebiets versprach er
anhaltende Unterstützung zum Schutz vor Russland. «Wir werden jeden
Quadratmeter des Bündnisgebiets verteidigen», versicherte er ihnen.

In Vorbereitung auf den Gipfelmarathon hatte Scholz sich vergangene
Woche in der Ukraine ein Bild von der Lage gemacht und unter anderem
den teilweise zerstörten Kiewer Vorort Irpin besichtigt. «Das Ausmaß

der Zerstörung ist enorm», sagte er im Bundestag. Seit Kriegsbeginn
habe die Europäische Union bereits Mittel in Milliardenhöhe
mobilisiert, Deutschland sei vorne mit dabei. «Aber wir werden viele
weitere Milliarden Euro und Dollar für den Wiederaufbau brauchen -
und das über Jahre hinweg. Das geht nur mit vereinten Kräften.»

Unionsfraktionschef Merz betonte, Bundesregierung und Bundestag
müssten der Schutzverantwortung für die Ukraine nachkommen. Der
Besuch des Kanzlers in Kiew zusammen mit Frankreichs Präsident
Emmanuel Macron und Italiens Ministerpräsident Mario Draghi sei ein
«wichtiges Zeichen der europäischen Solidarität mit diesem
unverändert geschundenen Land und seinen Menschen» gewesen. Merz
zeigte sich besorgt darüber, dass Russland nun offenbar dabei sei,
die Spannungen zu Litauen zu verschärfen. «Dies zeigt, dass wir in
unserer Einschätzung richtig liegen, dass Putin in der Ukraine
gestoppt werden muss. Wenn das nicht gelingt, macht er weiter.»

Linksfraktionschef Dietmar Bartsch lehnte einen baldigen EU-Beitritt
der Ukraine ab. «Wer einmal in der EU ist, der kann nicht mehr
ausgeschlossen werden, und wir alle wissen, dass die EU schon heute
sehr problematische Mitglieder hat.» Gegenüber der Ukraine gelte:
«Unterstützung ja, Hoffnung ja - aber keine falsche Hoffnung wecken.»

AfD-Partei- und Fraktionschef Tino Chrupalla kritisierte, mit dem
Beitrittsversprechen an die Ukraine werde der dortigen Bevölkerung
eine Sicherheit vorgegaukelt, die niemals einzuhalten sei.

Grünen-Fraktionschefin Katharina Dröge betonte dagegen, eine «klare
europäische Beitrittsperspektive» sei der Ukraine besonders wichtig.
«Und deswegen ist es so fundamental wichtig, wenn vom Europäischen
Rat jetzt das Zeichen ausgeht, dass die Ukraine und dass auch Moldau
den Kandidatenstatus bekommen werden.» FDP-Fraktionschef Christian
Dürr betonte, für den späteren Wiederaufbau der Ukraine sei der
gemeinsame europäische Binnenmarkt der beste Weg.

Scholz versicherte, Europa stehe geschlossen an der Seite des
ukrainischen Volkes. «Wir werden die Ukraine auch weiterhin massiv
unterstützen - finanziell, wirtschaftlich, humanitär, politisch und
nicht zuletzt mit der Lieferung von Waffen», sagte er und ergänzte:
«Und zwar so lange, wie die Ukraine unsere Unterstützung braucht.»

Vom Nato-Gipfel in Madrid erwartet Scholz ein Signal des
Zusammenhalts und der Entschlossenheit. «Eine Partnerschaft mit
Russland, wie sie noch das Strategische Konzept von 2010 als Ziel
ausgegeben hat, ist mit Putins aggressivem, imperialistischen
Russland auf absehbare Zeit unvorstellbar», betonte er. Zugleich
warnte er: «Es wäre unklug, unsererseits die Nato-Russland-Grundakte
aufzukündigen.» Das würde nur dem russischen Präsidenten Wladimir
Putin und seiner Propaganda in die Hände spielen.

In der Grundakte von 1997 hatte sich die Nato auch verpflichtet, auf
die dauerhafte Stationierung «substanzieller Kampftruppen» im
östlichen Bündnisgebiet zu verzichten. Die geplante langfristige
Verstärkung der Nato-Präsenz an der Ostflanke könnte die Spannungen
mit Russland weiter verstärken. Beim Nato-Gipfel in Madrid wollen die
Bündnispartner auch über ein neues strategisches Konzept beraten.