EU-Gipfel: Hoffnung für die Ukraine - Enttäuschung für den Westbalkan

23.06.2022 16:23

Es soll ein historischer Gipfel werden, auf dem der von Russland
attackierten Ukraine der Weg in Richtung EU geebnet werden soll.
Trotzdem gibt es schlechte Stimmung. Die Länder des westlichen
Balkans fühlen sich verprellt. Es fallen Begriffe wie «Schande».

Brüssel (dpa) - Die Europäische Union hat die Hoffnungen von sechs
Balkan-Staaten enttäuscht, auf ihrem Weg in die EU voranzukommen.
«Ich kann der EU nur mein tiefstes Bedauern ausdrücken», sagte der
albanische Ministerpräsident Edi Rama am Donnerstag nach einem
EU-Westbalkan-Treffen in Brüssel. «Nicht einmal ein Krieg in Europa,
der zur globalen Katastrophe werden könnte, war dazu in der Lage,
ihre Einheit herzustellen.»

Dabei war Bundeskanzler Olaf Scholz mit dem Ziel in das Treffen
gegangen, neuen Schwung in den festgefahrenen Beitrittsprozess zu
bringen. Länder wie Nordmazedonien und Albanien warteten seit fast 20
Jahren auf eine Aufnahme in die EU, sagte der SPD-Politiker. «Aus
meiner Sicht ist es von allergrößter Bedeutung, dass das jetzt ein
glaubwürdiges Versprechen wird.»

Doch dieses Versprechen blieb aus - stattdessen machte sich vor allem
auf Seiten der Balkan-Staaten Ernüchterung breit. «Wir brachten
unsere Enttäuschung über die Dynamik des Erweiterungsprozesses zum
Ausdruck», sagte der nordmazedonische Ministerpräsident Dimitar
Kovacevski. Die EU hatte Albanien, Nordmazedonien, Serbien,
Montenegro, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo 2003 einen EU-Beitritt
in Aussicht gestellt. Inzwischen ist der Prozess aber festgefahren.

Grund dafür ist unter anderem, dass das EU-Land Bulgarien die
Aufnahme von Verhandlungen mit Nordmazedonien blockiert. Sofia
fordert unter anderem, dass das kleinere Nachbarland auf Forderungen
im Hinblick auf Minderheiten, Geschichtsschreibung und Sprache
eingeht. Aufgrund des bulgarischen Vetos beginnt auch der Prozess der
Verhandlungen mit Albanien nicht. Bosnien-Herzegowina und das Kosovo
sind noch nicht einmal offizielle Beitrittskandidaten.

Albaniens Ministerpräsident Rama bezeichnete die Blockade Bulgariens
als «Schande». «Ein Nato-Land - Bulgarien - nimmt zwei andere
Nato-Länder - Albanien und Nordmazedonien - inmitten eines heißen
Kriegs in Europa in Geiselhaft», sagte er. «Und die anderen sehen dem

in ihrer Impotenz zu.» Wie schlecht die Stimmung ist, hatte sich
schon vor dem Gipfel abgezeichnet. So hatten sich die Staats- und
Regierungschefs von Serbien, Albanien und Nordmazedonien wegen der
bulgarischen Blockade noch bis Mittwochmittag einen Gipfel-Boykott
offengehalten - sich dann aber dagegen entschieden.

Aus EU-Kreisen hieß es, es habe oberste Priorität, unverzüglich
Beitrittsgespräche mit Albanien und Nordmazedonien aufzunehmen. Es
werde mit höchster Dringlichkeit daran gearbeitet, die Probleme zu
lösen. Die europäische Perspektive der Länder sei bei dem Treffen
klar und unmissverständlich bekräftigt worden.

Noch verworrener wird es jedoch durch die Lage in Bulgarien selbst.
Dort hatte das Parlament dem Ministerpräsidenten Kiril Petkow und
seiner prowestlichen Regierung am Mittwochabend das Misstrauen
ausgesprochen. Zugleich liegt dem Parlament ein Vorschlag der
französischen EU-Ratspräsidentschaft vor, der zwischen Bulgarien und

Nordmazedonien vermitteln soll.

Petkow zufolge wird das Parlament «in den kommenden Tagen» eine
Entscheidung darüber treffen. Zunächst war unklar, ob es für den
Vorschlag eine Mehrheit gibt. Der niederländische Regierungschef Mark
Rutte sprach von einer 50- bis 60-prozentigen Chance für einen
Durchbruch in der kommenden Woche.

Kanzler Scholz hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Annäherung aller
sechs Staaten an die EU wieder in Gang zu bringen. «Deutschland wird
die Aktivitäten der westlichen Balkanstaaten unterstützen bei ihrem
Weg in die Europäische Union. Wir fühlen uns verantwortlich dafür,
dass diese Länder Erfolg haben mit ihren Bemühungen», sagte er.

Deutlich schneller scheint es mit den EU-Bemühungen der von Russland
angegriffenen Ukraine voranzugehen. Bei einem regulären EU-Gipfel
wollten die Staats- und Regierungschefs am Donnerstagnachmittag
darüber entscheiden, ob die Ukraine und das kleine Nachbarland Moldau
den Status als EU-Beitrittskandidat bekommen. Eine Entscheidung über
den Status muss einstimmig von allen 27 Staaten getroffen werden.
Die Ukraine, Moldau und auch Georgien hatten sich kurz nach Beginn
des russischen Kriegs gegen die Ukraine um die Mitgliedschaft in der
EU beworben. Georgien dürfte erst EU-Kandidat werden, wenn es weitere
Reformen erfüllt.