EU-Parlament billigt grünes Label für moderne Atom- und Gaskraft Von Vanessa Reiber, Marek Majewsky und Ansgar Haase, dpa

06.07.2022 16:44

Sollten Investitionen in Gas- und Atomkraftwerke unter bestimmten
Bedingungen als klimafreundlich eingestuft werden können? Diese Frage
sorgt in der EU seit Monaten für hitzige Debatten. Nun gibt es eine
Entscheidung - die allerdings nicht jeder hinnehmen will.

Straßburg (dpa) - Trotz scharfer Kritik von Umweltschützern hat sich
im Europaparlament eine Mehrheit hinter den Plan gestellt,
Investitionen in bestimmte Gas- und Atomkraftwerke als
klimafreundlich einzustufen. Im Plenum in Straßburg stimmten am
Mittwoch lediglich 278 Abgeordnete für einen Antrag zur Ablehnung des
Öko-Label-Vorhabens, erforderlich wären 353 gewesen. Entscheidend
waren die Stimmen der Christdemokraten, Liberalen und
Rechtskonservativen, die mehrheitlich dagegen votierten.

Enttäuschung bei Umweltschützern

Umweltschützer und Unterstützer des Ablehnungsantrags äußerten sich

zutiefst enttäuscht über das Abstimmungsergebnis. Der
sozialdemokratische Europaabgeordnete Joachim Schuster sprach von
einem «Rückschlag für den Klima- und Umweltschutz in Europa». Der
Grünen-Politiker Michael Bloss kommentierte: «Heute ist ein trauriger
Tag für die europäische Energiewende.»

Die Klimaschutzbewegung Fridays For Future teilte mit, Milliarden
Euro flössen nun in neue Gasinfrastruktur und Atomkraftwerke, statt
in den Ausbau von Wind- und Solar. «Ein harter Tag für alle, die sich
nach einer sichereren und nachhaltigen Welt sehnen», schrieb die
deutsche Aktivistin Luisa Neubauer auf Twitter.

Regierungssprecher Steffen Hebestreit teilte mit: «Ungeachtet des
Abstimmungsergebnisses bleibt die Bundesregierung bei ihrer Position
und betrachtet Kernenergie als nicht nachhaltig.» Er machte jedoch
keine Angaben dazu, ob der Bundesregierung eine Lösung ohne Gas und
Kernkraft lieber gewesen wäre als eine mit beiden Energiequellen.

Gegner kündigten zudem umgehend an, gegen den Rechtsakt vor dem
Europäischen Gerichtshof klagen zu wollen. Die Regierungen der
EU-Staaten Österreich und Luxemburg hatten einen solchen Schritt für
den Fall eines Scheiterns der Parlamentsabstimmung bereits Anfang des
Jahres in Aussicht gestellt und bekräftigten am Mittwoch ihre Pläne.
Linken-Ko-Chef Martin Schirdewan forderte die Bundesregierung auf,
eine Klage zu unterstützen.

Einstufung soll Investitionen in Klimaschutz fördern

Konkret ging es bei dem Votum im Parlament um einen ergänzenden
Rechtsakt zur sogenannten Taxonomie der EU. Sie ist ein
Klassifikationssystem, das private Investitionen in nachhaltige
Wirtschaftstätigkeiten lenken und so den Kampf gegen den Klimawandel
unterstützen soll. Für Unternehmen ist es relevant, weil es die
Investitionsentscheidungen von Anlegern beeinflussen und damit zum
Beispiel Auswirkungen auf Finanzierungskosten von Projekten haben
könnte. Investoren sollen zudem in die Lage versetzt werden,
Investitionen in klimaschädliche Wirtschaftsbereiche zu vermeiden.

In einem ersten Schritt war bereits im vergangenen Jahr entschieden
worden, die Stromproduktion mit Solarpaneelen, Wasserkraft oder
Windkraft als klimafreundlich einzustufen. Zudem wurden Kriterien für
zahlreiche andere Wirtschaftsbereiche festgelegt. Sie regeln
beispielsweise, dass der Personen- und Güterzugverkehr ohne direkte
CO2-Abgasemissionen als klimafreundlich eingestuft werden kann.

Druck von Frankreich

Unter dem Druck einiger Mitgliedstaaten schlug die für
Gesetzesvorschläge zuständige EU-Kommission dann Ende vergangenen
Jahres zusätzlich vor, auch Investitionen in Gas- und Atomkraftwerke
unter bestimmten Bedingungen als klimafreundlich einzustufen. Eine
entscheidende Rolle spielte dabei Frankreich, das in der Atomkraft
eine Schlüsseltechnologie für eine CO2-freie Wirtschaft sieht und die
Technik gerne auch weiter in andere Länder exportieren will.
Deutschland setzte sich im Gegenzug für ein grünes Label für Gas als

Übergangstechnologie ein.

Konkret sieht der Rechtsakt der EU-Kommission vor, dass in Ländern
wie Frankreich, Polen und den Niederlanden geplante Investitionen in
neue AKW als nachhaltig klassifiziert werden können, wenn die Anlagen
neuesten Technik-Standards entsprechen und ein konkreter Plan für
eine Entsorgungsanlage für hoch radioaktive Abfälle spätestens 2050
vorgelegt wird. Zudem soll Bedingung sein, dass die neuen Anlagen bis
2045 eine Baugenehmigung erhalten. Bei der Einstufung neuer
Gaskraftwerke soll relevant sein, wie viel Treibhausgase ausgestoßen
werden und ob sich die Anlagen spätestens 2035 auch mit grünem
Wasserstoff oder kohlenstoffarmem Gas betreiben lassen können.

Der tschechische Ministerpräsident Petr Fiala bezeichnete den
Rechtsakt am Mittwoch als einen «schwierig ausgehandelten und
fragilen Kompromiss». Eine Reihe von EU-Staaten könne ihre
Verpflichtungen aus den gemeinsamen Klimazielen nur mit solchen
Regeln erfüllen, argumentierte der liberalkonservative Politiker. Sie
sehen vor, dass die EU bis 2050 klimaneutral wird.

Blockade durch Mehrheit der Mitgliedstaaten gilt als ausgeschlossen

Die Umsetzung des Kommissionsvorschlags kann noch verhindert werden,
wenn sich bis zum 11. Juli mindestens 20 EU-Staaten
zusammenschließen, die mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung
der EU vertreten. Dass eine entsprechende Mehrheit im Rat der EU
zustande kommt, gilt allerdings wegen des Interesses von vielen
Staaten an der Nutzung von Kernkraft als ausgeschlossen. Der
Rechtsakt wird so vermutlich Anfang 2023 in Kraft treten.

Befürworter und Gegner haben Argumente

Umweltschützer hatten die EU-Abgeordneten vor der Abstimmung
aufgefordert, gegen den neuen Rechtsakt zur Taxonomie zu stimmen. Sie
kritisieren unter anderem, dass Treibhausgase ausgestoßen werden,
wenn Energie mit Erdgas erzeugt wird. Bei Atomkraft gelten
hauptsächlich der Abfall, aber auch mögliche Unfälle als
problematisch. Zuletzt argumentierten Gegner zudem, dass Anreize für
Investitionen in den Bau neuer Gaskraftwerke in starkem Kontrast zu
den Bemühungen stehen, unabhängig von russischem Gas zu werden.

Befürworter verweisen hingegen auf die Notwendigkeit von
Übergangstechnologien und darauf, dass für den Betrieb von
Gaskraftwerken auch Flüssiggas zum Beispiel aus den USA oder
Wasserstoff genutzt werden kann. «Für Energieversorgungssicherheit
inmitten der aktuellen Energiekrise braucht es mehr denn je
Investitionen in Gasinfrastrukturen, vor allem auch in
Flüssiggas-Terminals», kommentierte Holger Lösch vom Bundesverband
der Deutschen Industrie (BDI). Mit der EU-Taxonomie sei jetzt der Weg
frei für Finanzströme in den Übergang von Kohle und Erdgas zu
erneuerbaren und alternativen Gasen - dies gebe der Industrie
Planungssicherheit.