EuGH kippt deutsche Regelungen zu Familiennachzug und Kindergeld

01.08.2022 16:01

Kein guter Tag für Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof: Das

höchste europäische Gericht kassiert gleich mehrere Regeln, die die
Rechte von Flüchtlingen und Migranten betreffen.

Luxemburg (dpa) - Der Europäische Gerichtshof hat mehrere deutsche
Regelungen zum Umgang mit Flüchtlingen und Migranten gekippt. Die
höchsten europäischen Richter erklärten am Montag in Luxemburg eine

Regel zum Nachzug von Familienangehörigen von Flüchtlingen sowie
Einschränkungen von Kindergeldleistungen für Zuzügler aus anderen
EU-Staaten für rechtswidrig. In einem weiteren Fall mit
Deutschlandbezug wurden die Rechte minderjähriger Flüchtlinge
gestärkt, die einen Antrag auf internationalen Schutz stellen.

EU-Recht steht in dem Staatenbund über dem nationalen Recht.
EuGH-Urteile müssen deshalb von den EU-Staaten umgesetzt werden.

Volljährig während des Verfahrens? Nachzug darf nicht verwehrt werden

Eine «180-Grad-Wende» der Flüchtlingspolitik folgt nach Ansicht der
Flüchtlingsorganisation Pro Asyl aus dem Urteil zum Familiennachzug.
Bislang ist es in Deutschland gängig, dass ein solcher Nachzug
verwehrt wird, wenn ein minderjähriges Kind während des Verfahrens
volljährig wird. «Nach dieser Logik büßen die Familien dafür, das
s
die deutsche Bürokratie so langsam arbeitet», argumentiert Pro Asyl.

Dieser Ansicht ist auch der EuGH. Den deutschen Regeln zufolge hätten
die zuständigen Behörden und Gerichte keinen Grund, die Anträge der
Eltern mit der gebotenen Dringlichkeit zu bearbeiten. Zudem hänge der
Erfolg eines Antrags hauptsächlich von Umständen ab, die in der Hand
nationaler Behörden und Gerichte liege.

Hintergrund der Entscheidung sind mehrere Fälle, die aus der großen
Fluchtbewegung 2015 nach Deutschland folgten und an deutschen
Gerichten anhängig sind. Zum einen geht es um syrische Eltern, die
Visa zur Familienzusammenführung mit ihrem in Deutschland als
Flüchtling anerkannten, minderjährigen Sohn beantragten. Zum anderen
geht es um einen Fall, bei dem eine minderjährige Syrerin zu ihrem in
Deutschland als Flüchtling anerkannten Vater wollte. Die
Minderjährigen wurden im Laufe der Verfahren volljährig, weshalb
deutsche Behörden die Anträge auf Familienzusammenführung ablehnten.


Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums konnte sich am Montag
zunächst nicht zu möglichen Konsequenzen des Urteils äußern und
verwies darauf, dass die Entscheidung zunächst ausgewertet werden
müsse. «Wenn sich daraus Handlungsbedarf ergibt, wird das natürlich
erfolgen.»

Ungleichbehandlung beim Kindergeld nicht mit EU-Recht vereinbar

Ebenfalls gekippt wurde eine Regel, die Kindergeldzahlungen für
zugezogene Menschen aus anderen EU-Staaten einschränkt. Demnach
dürfen Ansprüche in den ersten drei Monaten des Aufenthalts nicht von
Einkünften aus einer Erwerbstätigkeit abhängig gemacht werden.

Die EuGH-Richter argumentierten, dass das in Rede stehende Kindergeld
keine Sozialhilfeleistung im Sinne möglicher Ausnahmebestimmungen
darstelle. Grund dafür sei, dass es nicht der Sicherstellung des
Lebensunterhalts diene, sondern dem Ausgleich von Familienlasten. Da
im EU-Recht hinsichtlich solcher Familienleistungen keine Ausnahme
vom Grundsatz der Gleichbehandlung von Inländern und
Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedsstaat vorgesehen sei, stehe
das EU-Recht der deutschen Ungleichbehandlung entgegen.

Rechte Minderjähriger bei Antrag auf internationalen Schutz gestärkt

In einem weiteren Fall stärkte der EuGH die Rechte minderjähriger
Flüchtlinge, die in Deutschland einen Antrag auf internationalen
Schutz stellen. Es dürfe bei einem solchen Antrag keine Rolle
spielen, ob den Eltern des Minderjährigen zuvor bereits in einem
anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden sei,
urteilten die Richter. Voraussetzung ist demnach allerdings unter
anderem, dass der Minderjährige zuvor nicht schon in einem anderen
Land schriftlich um Schutz gebeten hat.

Damit widersprach der EuGH den deutschen Behörden. Diese hatten sich
für den Antrag auf internationalen Schutz einer russischen
Minderjährigen eigentlich nicht zuständig gefühlt, weil ihre Familie

bereits einen Schutzstatus in Polen bekommen hatte.