Kriegsbedingte Engpässe: Mehr Getreideanbau in Deutschland möglich Von André Stahl, dpa

07.08.2022 12:34

2023 sollten Landwirte auch hierzulande wegen des Artenschutzes
eigentlich weniger Getreide anbauen. Doch kurz vor der Aussaat ändert
Agrarminister Özdemir die Vorgaben. Bauernverband und Länder begrüß
en
den Schritt als überfällig, es gibt allerdings auch Kritik.

Berlin (dpa) - Landwirte in Deutschland können angesichts
angespannter internationaler Agrarmärkte infolge des Ukraine-Kriegs
mehr Flächen zum Getreideanbau nutzen. Dazu sollen die
EU-Neuregelungen zu Flächenstilllegung und Fruchtwechsel im kommenden
Jahr einmalig ausgesetzt werden. Ziel ist es, die Versorgung mit
Lebensmitteln zu sichern. Das sieht ein Kompromissvorschlag von
Agrarminister Cem Özdemir (Grüne) vor. Der Bauernverband begrüßte d
en
Schritt, hält eine Aussetzung für ein Jahr aber für unzureichend.
Zustimmung kam auch aus Bundesländern sowie vom Koalitionspartner
FDP. Umweltschützer warfen Özdemir dagegen vor, dem Druck der
Agrarlobby nachgegeben zu haben und den Artenschutz zu torpedieren.

Der Minister will Bauern und Bäuerinnen ermöglichen, Agrarflächen f
ür
den Anbau bestimmter Pflanzen zur Nahrungsmittelproduktion länger zu
nutzen. So sollen die eigentlich geplanten zusätzlichen
Artenschutzflächen erst 2024 eingeführt werden. Bauern könnten dann
im kommenden Jahr auf diesen Flächen weiter Nahrungsmittel anbauen.

Hintergrund sind ab 2023 greifende EU-Vorgaben, wonach ein Teil der
Landwirtschaftsflächen dem Artenschutz dienen soll. Zudem soll der
Anbau derselben Ackerpflanze zwei Jahre in Folge auf derselben Fläche
zum Bodenschutz grundsätzlich nicht mehr möglich sein. Brüssel
gewährt aber Spielräume, die Umsetzung wiederum ist Sache der
EU-Staaten. Özdemir hat nun einen Vorschlag unterbreitet, der ein
Aussetzen von Fruchtwechsel und Flächenstilllegung vorsieht. Er
braucht den Angaben zufolge nun die Zustimmung der Länder.

Die erstmalige verpflichtende Flächenstilllegung soll 2023 einmalig
ausgesetzt werden. Stattdessen soll laut Ministerium weiter ein
landwirtschaftlicher Anbau möglich sein, «allerdings im Sinne der
Ziele des Kommissionsvorschlags eingeschränkt auf die Produktion von
Nahrungsmitteln, daher auf die Kulturen Getreide (ohne Mais),
Sonnenblumen und Hülsenfrüchte (ohne Soja)». Das gelte nur für die

Flächen, die nicht bereits 2021 und 2022 als brachliegendes Ackerland
ausgewiesen seien: «Die bestehenden Artenvielfaltsflächen werden
dadurch weiterhin geschützt und können ihre Leistung für Natur- und
Artenschutz sowie eine nachhaltige Landwirtschaft erbringen.»

Zudem ist die EU den Angaben zufolge Özdemirs Vorschlag gefolgt und
lässt eine Ausnahme beim Fruchtfolgenwechsel zu. Die entsprechende
Regelung werde 2023 einmalig ausgesetzt. Damit könnten Landwirte in
Deutschland auf etwa 380 000 Hektar ausnahmsweise Weizen nach Weizen
anbauen. Nach wissenschaftlichen Berechnungen könnten damit bis zu
3,4 Millionen Tonnen Weizen angebaut werden. So gelinge es am besten,
«die Getreideerträge in Deutschland stabil zu halten und damit zur
Stabilität der Weltmärkte beizutragen», hieß es.

Özdemir sagte, Russlands Präsident Wladimir Putin spiele mit dem
Hunger, und er tue dies auf Kosten der Ärmsten in der Welt. Zugleich
sei der Hunger bereits dort am größten, wo die Klimakrise schon
schwere Folgen habe. «Für mich gilt daher, dass jede Maßnahme zur
Lösung einer Krise darauf hin überprüft werden muss, dass sie eine
andere nicht verschärft», sagte der Grünen-Politiker mit Blick auf
den Artenschutz. Die Landwirtschaft habe ein Angebot gemacht, durch
Beibehalten der Produktion die Getreidemärkte zu beruhigen.

Der Präsident des Bauernverbands, Joachim Rukwied, nannte die
Entscheidung überfällig, die in letzter Minute komme. Die Bauern
hätten bereits mit der Anbauplanung für das kommende Jahr begonnen.
Eine Aussetzung für ein Jahr sei aber nicht ausreichend. Um weiter
eine sichere Lebensmittelversorgung gewährleisten und in Krisenzeiten
reagieren zu können, müssten alle Flächen genutzt werden können, au
f
denen es landwirtschaftlich sinnvoll sei.

Özdemir habe endlich eingelenkt, sagte Baden-Württembergs Minister
für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz, Peter Hauk
(CDU), der auch Sprecher der unionsgeführten Agrarressorts der Länder
ist. Bayerns Agrarministerin Michaela Kaniber (CSU) nannte es
«überfällig, jetzt die Spielräume, die die EU-Kommission eröffnet

hat, zu nutzen und so Verantwortung für die Ernährungssicherung zu
übernehmen». Die stellvertretende Vorsitzende der
FDP-Bundestagsfraktion, Carina Konrad, forderte, die Regelungen
schnell und rechtssicher umzusetzen, da die Aussaat bevorstehe. Aus
Sicht von Unions-Fraktionsvize Steffen Bilger (CDU) hat Özdemir mit
seinem «parteitaktisch motivierten Zaudern» wertvolle Zeit vertan.
Die Regeländerungen sehe er nur als ersten Schritt, sagte er.

Greenpeace-Experte Matthias Lambrecht kritisierte, die ohnehin viel
zu geringen Flächen zum Schutz der Artenvielfalt würden so
wirtschaftlichen Interessen geopfert: «Dabei ist die
Ernährungssicherung in Kriegszeiten nur ein Vorwand, um wertvolle
Biotope unterzupflügen.» Dort angebauter Weizen würde erst im
nächsten Jahr und in nicht ausreichender Menge zur Verfügung stehen,
um der akuten globalen Hungerkrise wirkungsvoll zu begegnen.

Mit einem Ausstieg aus dem Biosprit könnte umgehend ein Vielfaches
der Getreidemenge bereitgestellt werden, sagte Lambrecht. Auch die
Umwelthilfe fordert, die Förderung für Agrosprit sofort zu beenden
und Flächen für die Lebensmittelproduktion umzuwidmen. Der
Grünen-Politiker Jan-Niclas Gesenhues forderte im Redaktionsnetzwerk
Deutschland eine Reduzierung von Getreide in der Futterversorgung und
ein Ende des Biosprit-Einsatzes.