«Europa zu besuchen ist ein Privileg» - Einreiseverbot für Russen? Von Michel Winde und Ulf Mauder, dpa

18.08.2022 17:17

Sieben Sanktionspakete hat die EU wegen des Angriffs auf die Ukraine
bereits gegen Russland verhängt - doch der Krieg ist immer noch nicht
beendet. Nun steht eine neue Strafmaßnahme im Raum: Die EU könnte
Russen weitgehend den Zutritt verwehren.

Brüssel/Moskau (dpa) - War es das für Russen mit dem Urlaub in
Berlin, Paris oder Madrid? In der EU wird heftig über einen
weitgehenden Vergabestopp für Visa an russische Staatsbürger
diskutiert. Einige Länder sind längst vorgeprescht - doch Kanzler
Olaf Scholz (SPD) steht auf der Bremse, mal wieder.

Ist es nun Putins Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, wie
Scholz sagt? Oder trägt auch die russische Bevölkerung einen nicht
unerheblichen Anteil daran? Sollten Russen also nicht mehr in die EU
reisen dürfen?

Bislang war die Haltung der Europäischen Union eindeutig: Der
russische Präsident Wladimir Putin und seine Günstlinge sind
verantwortlich für den Krieg. Viele von ihnen sind mit Sanktionen
belegt worden. Wovor man sich in Brüssel bislang scheut, sind Strafen
gegen die Bevölkerung - doch der Wind dreht sich, zumindest ein
bisschen. Mehrere Regierungen sind mittlerweile der Ansicht, dass der
russische Angriffskrieg auch für das Volk Konsequenzen haben sollte.

Befeuert hatte die Debatte der ukrainische Präsident Wolodymyr
Selenskyj Anfang August mit einer Forderung nach einem Einreiseverbot
für Russen. Innerhalb der EU machen Länder wie Estland, Lettland und
Finnland Druck.

«Ich finde es nicht richtig, dass russische Bürger als Touristen in
die EU, den Schengen-Raum einreisen und Sightseeing machen können,
während Russland Menschen in der Ukraine tötet», sagte die finnische

Ministerpräsidentin Sanna Marin Anfang der Woche. Ihre estnische
Kollegin Kaja Kallas schrieb auf Twitter: «Europa zu besuchen ist ein
Privileg, kein Menschenrecht.» Beide argumentieren auch aus eigener
Betroffenheit. Denn da der Flugverkehr zwischen Russland und der EU
infolge des Kriegs eingestellt worden ist, sind die an Russland
grenzenden Länder Estland, Lettland und Finnland für reisende Russen
derzeit so etwas wie das Tor zur EU.

Immer mehr Länder setzen deren Reisefreiheit nun jedoch Grenzen und
schränken die Vergabe von Schengen-Visa an Russen im Alleingang ein.
Dazu gehören Estland, Lettland, Litauen und Tschechien. Finnland will
ab September folgen, Polen erwägt eine ähnliche Regelung. Dänemark
dringt auf eine EU-Lösung und will sonst ebenfalls selbst handeln.

Estland geht seit diesem Donnerstag noch einen Schritt weiter: Das
Land lässt selbst einen Großteil jener Russen nicht mehr ins Land,
die bereits ein estnisches Visum haben. «Wo ein Wille ist, ist auch
ein Weg», schrieb der estnischen Außenminister Urmas Reinsalu auf
Twitter. Eine Sprecherin der EU-Kommission betonte am Donnerstag
dennoch, man sei mit den EU-Staaten im Gespräch um ein koordiniertes
Vorgehen sicherzustellen.

Alleingänge bringen im Schengenraum nicht viel. Das Visum eines
Landes gilt für alle 26 europäischen Länder im Schengen-Raum.

Bislang melden sich vor allem die Befürworter eines Einreiseverbots
zu Wort. Kritische Stimmen aus den EU-Hauptstädten gibt es wenige -
mit Ausnahme von Kanzler Scholz. «Es ist nicht der Krieg des
russischen Volks, es ist Putins Krieg», betont er. Zudem verweist er
etwa auf russische Staatsbürger auf der Flucht. Ihnen dürfe man
den Weg in die EU nicht erschweren. Unterstützung bekommt Scholz vom
prominenten Kremlgegner Wladimir Milow, der vor einem «Visa-Krieg
gegen Russen» warnte.

Ein grundsätzliches Verbot für alle russischen Bürger ist rechtlich
ohnehin keine Option. Vielmehr müsse jeder Antrag einzeln geprüft
werden, heißt es aus der EU-Kommission. Nach einer Einzelfallprüfung
könnten Anträge dann abgelehnt werden - etwa, weil jemand eine
Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die internationalen
Beziehungen sei. Bestimmten Personen müsse immer ein Visum
ausgestellt werden, etwa Journalisten oder Dissidenten.

In Russland selbst gehört ein Reiseverbot seit Tagen zu den
meistdiskutierten Themen. Der Kreml warnte vor einer weiteren
Verschlechterung der ohnehin bis zum Zerreißen gespannten Beziehungen
mit dem Westen. Selenskyjs Vorschlag sei an «Irrationalität» kaum
noch zu übertreffen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Versuche,
Russland zu isolieren, seien perspektivlos.

Sollte die Visa-Vergabe tatsächlich eingeschränkt werden, dürfte dies

jedoch wie die vorangegangenen Sanktionen öffentlich weggelächelt
werden. Schon jetzt haben andere und vor allem visafreie Ziele etwa
in der Türkei und Ägypten mit Direktflügen Konjunktur.

Ohnehin verbringen Russen ihren Urlaub fast nur in der Heimat. Das
staatliche russische Meinungsforschungsinstitut FOM veröffentlichte
als Antwort auf die Diskussion in der EU eine Umfrage, nach der sich
knapp 70 Prozent der Befragten noch nie im Ausland erholt haben.
Ferienorte in Russland an der Schwarzmeerküste oder in der Region
Krasnodar, an der Wolga oder auch im Altai-Gebirge erfreuen sich seit
Jahren wachsender Besucherzahlen.

Dennoch ist Russland stets das Land, aus dem die meisten Anträge für
ein Kurzzeit-Visum im Schengenraum kommen. 2021 waren es nach Daten
der EU-Kommission coronabedingt zwar nur 536 241 Anträge, dies war
jedoch immer noch knapp jedes fünfte Gesuch. Vor der Pandemie 2019
wurden sogar mehr als vier Millionen Anträge gestellt, was fast einem
Viertel aller Ersuchen entsprach.

Wie weiter also? Tschechien, das derzeit den Vorsitz der EU-Staaten
innehat, will die Frage bei einem Treffen der EU-Außenminister Ende
August zur Sprache bringen. Außenminister Jan Lipavsky führt ein
weiteres Argument für Visa-Einschränkungen ins Feld: Es handele sich
auch um eine Frage der Sicherheit, betonte der Politiker unlängst. Es
gehe darum, den Einfluss und die Tätigkeit der russischen
Geheimdienste auf dem Gebiet der EU langfristig zurückzudrängen.