Ungarn und der Rechtsstaat: Jetzt droht der Verlust von EU-Milliarden Von Michel Winde, dpa

18.09.2022 16:34

Das EU-Parlament hält Viktor Orbans Ungarn nicht mal mehr für eine
vollwertige Demokratie. Und auch die EU-Kommission sieht große Mängel
im ungarischen Rechtsstaat. Deshalb macht die Behörde nun einen
brisanten Vorschlag.

Brüssel (dpa) - Wegen Korruption und anderer Verstöße gegen den
Rechtsstaat in Ungarn hat die Europäische Kommission vorgeschlagen,
dem Land Zahlungen in Höhe von rund 7,5 Milliarden Euro aus dem
EU-Haushalt zu kürzen. Das Geld sei in Ungarn nicht ausreichend vor
Missbrauch geschützt, sagte EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn am
Sonntag. Es ist das erste Mal, dass die Brüsseler Behörde wegen
Mängeln im Rechtsstaat eines EU-Staats einen solchen Schritt macht.

Zugleich würdigte Hahn am Sonntag jedoch, dass Ungarn zuletzt 17
Zusagen gemacht habe, um die Defizite zu beseitigen. Diese gingen in
die richtige Richtung, müssten aber auch umgesetzt werden. Nun liegt
es an den EU-Staaten, ob sie dem Vorschlag der EU-Kommission folgen.
Um die 7,5 Milliarden Euro tatsächlich einzufrieren, müssen
mindestens 15 Länder mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung
zustimmen.

Die EU-Kommission wirft Ungarn unter Regierungschef Viktor Orban seit
Jahren vor, EU-Standards und -Grundwerte zu untergraben. Die Behörde
startete etliche Vertragsverletzungsverfahren und verklagte Ungarn
mehrfach vor dem Europäischen Gerichtshof - ohne jedoch ein Umdenken
in Budapest zu erreichen.

Der Bericht über den Zustand des Rechtsstaats in den EU-Staaten vom
Juli liest sich entsprechend verheerend: Es gebe Unzulänglichkeiten
«in Bezug auf Lobbying, Drehtüreffekte sowie Parteien- und
Wahlkampffinanzierung»; unabhängige Mechanismen, um Korruption
aufzudecken, reichten nicht aus; die Rede ist von einem Umfeld, «in
dem die Risiken von Klientelismus, Günstlings- und Vetternwirtschaft
in der hochrangigen öffentlichen Verwaltung nicht angegangen werden».

Und das ist längst nicht alles. Die Lage wird aus Brüsseler Sicht
immer schlechter. Das Europaparlament leitete bereits 2018 ein
Verfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge gegen Ungarn ein, weil es
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte in dem Land bedroht
sah. Am Donnerstag sprachen die Abgeordneten Ungarn dann in einem
symbolischen Schritt ab, eine vollwertige Demokratie zu sein.

Der EU-Rechtsstaatsmechanismus soll diese Entwicklung stoppen. Das
Instrument soll dafür sorgen, dass Verstöße gegen rechtsstaatliche
Prinzipien nicht mehr ungestraft bleiben. Dabei ist entscheidend,
dass dadurch ein Missbrauch von EU-Geldern droht.

Im April leitete die EU-Kommission ein solches Verfahren gegen Ungarn
ein, zum ersten Mal überhaupt. Konkret sollen nun nach dem Vorschlag
vom Sonntag 65 Prozent aus drei Programmen zur Förderung
benachteiligter Regionen einbehalten werden: rund 7,5 Milliarden
Euro.

Die ungarische Regierung ließ sich lange nicht von ihrem Kurs
abbringen. Bis Juni ging sie auf die Bedenken der EU-Kommission gar
nicht ein. Dann jedoch schickte die Behörde ein Schreiben nach
Ungarn, in dem sie darlegte, wie viel Geld das Land verlieren könnte.
Was folgte, war eine ungekannte Gesprächsbereitschaft der Regierung.
«Finanzieller Druck zeigt offensichtlich seine Wirkung», sagte Hahn.

Konkret hat Budapest in den vergangenen Wochen unter anderem
angekündigt, eine neue Behörde für den Kampf gegen Korruption
einzurichten. Auch der Umgang mit EU-Mitteln soll transparenter
gemacht und strenger überwacht werden. Der Anteil öffentlicher
Ausschreibungen mit nur einem Bieter soll reduziert und die
Zusammenarbeit mit der EU-Anti-Betrugsbehörde Olaf gestärkt werden.

Diese Maßnahmen seien ein Paradigmenwechsel, sagte Hahn. Zugleich
verwies er darauf, dass es sich bislang nur um Versprechen handele
und wichtige Details noch festgelegt werden müssten. Ungarn will die
EU-Kommission bis zum 19. November über die Umsetzung der Maßnahmen
informieren. Die ersten Gesetze will Budapest bereits in dieser Woche
ins Parlament einbringen.

Ungarische Anti-Korruptions-Aktivisten warnen jedoch davor, dass die
Orban-Regierung Brüssel hinters Licht führen könnte. Und auch aus dem

Europaparlament kommen mahnende Stimmen. «Es ist fatal, dass Viktor
Orban mit ein paar Scheinreformen diese Sanktionen vor Jahresende
noch abwenden kann», sagte etwa der Grünen-Abgeordnete Daniel Freund.
Moritz Körner (FDP) sprach davon, dass die Länder sich nicht «mit
schnell beschlossenen Papiertigern» abspeisen lassen dürften. «Orban

hat das Recht auf einen Vertrauensvorschuss verloren.»

Wenn Ungarn jedoch alle Zusagen umsetzt, dürfte die EU-Kommission
empfehlen, die Mittel doch nicht zu kürzen. Hahn sagte am Sonntag
bereits, dass die Umsetzung der ungarischen Zusagen eine Weile
brauche. Deshalb werde man den Rat darum bitten, die Frist für eine
Entscheidung von einem Monat auf die maximal vorgesehenen drei Monate
auszuweiten.

Sollte Ungarn die Reformen tatsächlich umsetzen, könnten sie zudem
ein anderes Problem für Orban lösen. Denn derzeit blockiert die
EU-Kommission auch noch mehrere Milliarden an Corona-Hilfen. Es ist
das einzige Land, das sich bislang nicht auf einen Plan für die
Verwendung des Geldes mit der EU-Kommission einigen konnte. Auch hier
könnte es dann Bewegung geben.