Deutsche Vorratsdatenspeicherung ist gekippt - was kommt nun? Von Regina Wank und Anne-Beatrice Clasmann, dpa

20.09.2022 16:12

Der EuGH hat die derzeit ausgesetzte deutsche Regelung zur
Vorratsdatenspeicherung gekippt. Nun liegt der Ball bei der
Bundesregierung. Wie geht es jetzt weiter?

Luxemburg/Berlin (dpa) - Mit seiner Entscheidung zur deutschen
Vorratsdatenspeicherung hat der EuGH für die Speicherung von
Telekommunikationsdaten klare Leitplanken aufgestellt. Jetzt muss die
Bundesregierung entscheiden, wie eine mögliche Nachfolgeregelung
aussehen könnte. Die wichtigsten Fragen und Antworten:

Was hat der EuGH genau entschieden?

Der Europäische Gerichtshof hat eigentlich das gesagt, was er in den
vergangenen Jahren meistens zu dem Thema gesagt hat: Eine anlasslose
Speicherung von Kommunikationsdaten - also beispielsweise die Frage,
wer wann mit wem von welchem Ort aus telefoniert - ist unzulässig.
Eine Ausnahme gilt bei einer ernsthaften Bedrohung der nationalen
Sicherheit. Der Begriff der nationalen Sicherheit wird aber eng
gefasst: Erst im April entschied der EuGH zur Vorratsdatenspeicherung
in Irland, dass schwere Straftaten wie Mord nicht darunter fallen.

Eine Speicherung der IP-Adressen ist dem Urteil zufolge möglich -
allerdings nur zur Bekämpfung schwerer Verbrechen. Der EuGH schiebt
der Vorratsdatenspeicherung also keinen endgültigen Riegel vor.
(C-793/19 und C-794/19)

Wie nützlich ist die Vorratsdatenspeicherung überhaupt?

Befürworter hatten in den vergangenen Jahren vor allem mit dem Nutzen
dieses Instruments für die Aufklärung von Fällen von sexuellem
Kindesmissbrauch argumentiert. Denn oft ist die IP-Adresse des
Täters, der solche Fotos oder Videos im Internet einstellt und mit
anderen tauscht, der einzige Anhaltspunkt für die Ermittler. Ein
Großteil der Verfahren wegen sogenannter Kinderpornografie, mit denen
sich die deutsche Polizei beschäftigt, wird durch Hinweise der
gemeinnützigen Kinderschutzorganisation NCMEC ausgelöst. In drei von
vier Fällen lässt sich bereits jetzt - ohne die anlasslose
Vorratsdatenspeicherung - der Täter ermitteln. Schätzungen zufolge
würde die Erfolgsquote auf mehr als 90 Prozent steigen, wenn man
zusätzlich Zugriff auf automatisch gespeicherte Daten von
Telekommunikationsunternehmen hätte.

Wie handhaben die anderen EU-Staaten die Vorratsdatenspeicherung?

Die Vorratsdatenspeicherung ist in ganz Europa ein heißes Eisen.
Viele EU-Mitgliedstaaten wenden eine Form der Vorratsdatenspeicherung
an oder arbeiten entsprechende Gesetze aus. Vor dem EuGH landeten in
den vergangenen Jahren immer wieder Regelungen. Zeitgleich mit dem
deutschen Urteil kippte der EuGH am Dienstag eine Regelung aus
Frankreich zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung zur Bekämpfung von
Straftaten des Marktmissbrauchs. Im April entschied der EuGH, dass
die irische Regelung rechtswidrig ist. Vor zwei Jahren wurde eine
belgische Regelung als unvereinbar mit EU-Recht erklärt.

Was bedeutet das Urteil für Polizei und Staatsanwaltschaften?

Für sie ändert sich wohl zunächst erst einmal gar nichts. Denn die
alte Regelung zur Vorratsdatenspeicherung war in Deutschland ja
ohnehin ausgesetzt. Und ein neues Gesetz gibt es noch nicht.

Wird es jetzt in Deutschland bald ein neues Gesetz geben?

Zunächst geht die Sache an das Bundesverwaltungsgericht zurück, das
im konkret vorliegenden Fall ein Urteil fällen und dabei nun die neue
EuGH-Entscheidung berücksichtigen muss. Unmittelbar wirkt sich das
Urteil also erstmal nur auf die Klage der Spacenet AG und der Telekom
aus. Mittelfristig liegt der Ball aber beim Gesetzgeber.

Der Bundesgeschäftsführer des Deutschen Richterbundes, Sven Rebehn,
sagte: «Verkehrsdaten sind in vielen Fällen ein wichtiger Ansatzpunkt
für die Strafverfolger, um die Täter einer Straftat zu ermitteln.»
Daher sei die Bundesregierung jetzt gefordert, die Vorgaben des
Gerichtshofs rasch in eine rechtssichere und praxistaugliche
Neuregelung zu übertragen. «Es ist zu hoffen, dass es dabei in der
Ampelkoalition nicht zu einem langwierigen politischen Streit kommt,
der eine Neuregelung über Monate blockiert.»

Wie lange es dauert, bis ein neues Gesetz kommt, ist offen. Zwar will
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) bald einen Entwurf
vorlegen, der die Anwendung des von ihm favorisierten
Quick-Freeze-Verfahrens auf richterliche Anordnung vorsieht. Dass
dieser Entwurf Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD)
zufriedenstellen wird, ist aber eher unwahrscheinlich. Sie betont,
dass sie - mit Blick auf terroristische Bedrohungen und die
Bekämpfung von Kindesmissbrauch - Spielräume, die das Urteil aus
Luxemburg eröffnet, auch nutzen will.

Wie sehen diese Spielräume konkret aus?

Das Urteil erlaubt für einen «auf das absolut Notwendige begrenzten
Zeitraum eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der
IP-Adressen», die Rückschlüsse auf den Nutzer zulassen. Allerdings
stehen FDP und Grüne sowie einige führende SPD-Politiker bisher auf

dem Standpunkt, dass man über das, was im Koalitionsvertrag
vereinbart ist, nicht hinausgehen will. Dort heißt es, man wolle «die
Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung so ausgestalten, dass Daten
rechtssicher anlassbezogen und durch richterlichen Beschluss
gespeichert werden können». Die Union fordert Faeser auf, die
Spielräume, die das Urteil bei der Einführung einer
Mindestspeicherung von Internet-Verbindungsdaten zur Bekämpfung
schwerster Kriminalität für einen begrenzten Zeitraum bietet,
auszuschöpfen. Die Ministerin müsse sich gegenüber ihren
Koalitionspartnern, «allen voran gegenüber der FDP und Justizminister
Buschmann» durchsetzen, sagte der innenpolitische Sprecher der
Fraktion, Alexander Throm (CDU).

Wie funktioniert Quick Freeze?

Bei diesem Verfahren werden Telekommunikationsanbieter verpflichtet,
bei einem Anfangsverdacht Daten zu einzelnen Nutzern für einen
bestimmten Zeitraum zu speichern. Anstatt mit dem Netz zu fischen,
wird hier also quasi nur eine Angel ausgeworfen. Allerdings wird
dadurch aus Sicht vieler Ermittler auch die Wahrscheinlichkeit, den
Täter noch zu finden, geringer. Immerhin einen Vorteil hätte Quick
Freeze für die Ermittler: Wenn ein Richter das «Einfrieren» der Daten

zu einem bestimmten Verdachtsfall angeordnet hat, stünde dazu dann
nicht nur die IP-Adresse zur Verfügung, sondern auch Verbindungs- und
Standortdaten.