Selenskyj fordert vor UN Bestrafung Moskaus - Die Nacht im Überblick

22.09.2022 05:00

Wegen der militärischen Rückschläge in der Ukraine beruft Russland
Hunderttausende Reservisten ein. Das versetzt die russische
Gesellschaft in Unruhe. Viele junge Männer flüchten aus dem Land. Ein
Überblick über Geschehnisse in der Nacht und Ausblick auf den Tag.

Kiew/New York (dpa) - Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj
hat vor den Vereinten Nationen eine Bestrafung Russlands für den
Angriffskrieg gegen sein Land verlangt. «Es wurde ein Verbrechen
gegen die Ukraine begangen, und wir fordern eine Bestrafung», sagte
Selenskyj am Mittwoch in einer Videobotschaft vor der
UN-Vollversammlung in New York. Russland müsse bestraft werden für
das Morden, die Folter, die Erniedrigungen und die desaströsen
Turbulenzen, in die es die Ukraine gestürzt habe.

Gleichzeitig vollzogen die Ukraine und Russland in der Nacht auf
Donnerstag einen der größten Gefangenenaustausche in dem fast sieben
Monate dauernden Krieg. 205 gefangene Ukrainer wurden freigelassen,
wie der Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, Andrij Jermak,
mitteilte. Dazu zählten auch Verteidiger von Mariupol, die verschanzt
im Stahlwerk Azovstal bis Mitte Mai Widerstand gegen die russischen
Eroberer geleistet hatten.

In Russland protestierten angesichts der vom Kreml verkündeten
Einberufung von 300 000 Reservisten mehrere Tausend Menschen. Die
Polizei nahm nach Zählung des Bürgerrechts-Portals OVD-Info bis
Mittwochabend mehr als 1380 Protestler in 38 Städten fest, die
meisten davon in St. Petersburg und Moskau. Für die Ukraine ist
Donnerstag der 211. Tag des russischen Angriffskrieges.

Selenskyj will Russland isolieren

Als eine Strafe für Russland forderte Selenskyj, das Nachbarland in
internationalen Organisationen zu isolieren - zumindest solange die
Aggression andauere. «Nehmt das Stimmrecht weg! Entzieht den
Delegationen ihre Privilegien! Hebt das Vetorecht auf, wenn es sich
um ein Mitglied des UN-Sicherheitsrats handelt!», appellierte der
ukrainische Präsident. Eine Blockade aller Beziehungen mit Russland,
auch des Handels, sei zugleich eine Strafe für Moskau und ein Schritt
zum Frieden für die Ukraine. Die meisten Vertreter der 193
UN-Mitgliedsstaaten spendeten der Rede des ukrainischen Präsidenten
stehend Applaus. Die Vertreter Russlands blieben derweil sitzen.

Gefangenenaustausch: «Unsere Helden sind frei»

Bei dem Gefangenenaustausch ließ die Ukraine nach Jermaks Angaben 55
russische Soldaten frei, die bei der Offensive im Gebiet Charkiw
Anfang September gefangen genommen worden waren. Auch durfte der
festgenommene prorussische Politiker Viktor Medwedtschuk, ein
Vertrauter von Präsident Wladimir Putin, ausreisen.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erklärte, der Austausch

sei unter Vermittlung der Türkei zustande gekommen, wie die
staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete. Erdogan nannte die
Einigung demnach einen «wichtigen Schritt» hin zur Beendigung des
Kriegs in der Ukraine. Fünf der in Mariupol gefangenen ukrainischen
Kommandeure seien in der Türkei unter dem besonderen Schutz Erdogans,
teilte Jermak mit. «Unsere Helden sind frei», schrieb er.

Separatisten lassen zehn Ausländer frei

Im Rahmen des Austauschs gaben die von Moskau gesteuerten
Separatisten in der Ostukraine zehn Ausländer frei, die unter
Vermittlung Saudi-Arabiens nach Riad ausgeflogen wurden. Dabei
handelte es sich um fünf Briten, zwei US-Amerikaner und je einen
Schweden, Kroaten und Marokkaner.

Die britische Premierministerin Liz Truss sprach auf Twitter von
einer «sehr willkommenen Nachricht». Damit seien Monate der
Unsicherheit und des Leidens für die Betroffenen und ihre Familien zu
Ende gegangen. Zu den Freigelassenen zählt ein 28-jähriger Brite, der
in einem Schauprozess als Söldner zum Tode verurteilt worden war, wie
Gesundheitsstaatssekretär Robert Jenrick mitteilte.

US-Außenminister Antony Blinken bestätigte, dass sich seine beiden
freigelassenen Landsleute zuvor den ukrainischen Truppen
angeschlossen hätten und im Gefecht gefangen genommen worden seien.
US-Bürger sollten derzeit nicht in die Ukraine reisen, warnte
Blinken, sondern das angegriffene Land lieber anders unterstützen.

Proteste gegen die Mobilmachung in Russland

Der Protest gegen die von Putin angeordnete Teilmobilmachung brachte
in Russland Tausende Menschen auf die Straßen. Allein in St.
Petersburg wurden nach Angaben von OVD-Info über 550 Demonstranten in
Gewahrsam genommen, in der Hauptstadt Moskau waren es ebenfalls mehr
als 500.

In Moskau riefen die Menschen «Nein zum Krieg!» und forderten ein
«Russland ohne Putin». Fotos und Videos zeigten, wie Polizisten die
meist jungen Demonstranten grob packten und in Busse schleppten. Von
dort wurden die Festgenommenen in Polizeistationen gebracht. Ähnlich
große Proteste hatte es zuletzt in den Tagen direkt nach dem
russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar gegeben.

Die Einberufung der Reservisten soll den offenkundigen Soldatenmangel
der russischen Streitkräfte im Ukraine-Krieg ausgleichen. Mit
völkerrechtlich völlig wertlosen Scheinreferenden will Moskau
außerdem die besetzten Gebieten in der Ukraine an Russland
anschließen.

Um der Gefahr einer Einberufung zu entgehen, setzten sich am Mittwoch
sofort viele junge Männer aus Russland ab. Die Preise für Flugtickets
in die Türkei, nach Serbien, Kasachstan, Georgien und Armenien
schossen Medienberichten zufolge in die Höhe. «Anscheinend verlassen
viele Russen ihre Heimat: Wer Putins Weg hasst und die liberale
Demokratie liebt, ist uns in Deutschland herzlich willkommen»,
schrieb Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) auf Twitter.

Die Außenminister der sieben führenden demokratischen
Wirtschaftsmächte (G7) forderten alle Staaten dazu auf, die
Scheinreferenden zu verurteilen und Ergebnisse nicht anzuerkennen.
Außerdem würden weitere gezielte Sanktionen gegen Russland
vorangetrieben, hieß es in einer mit dem EU-Außenbeauftragten Josep
Borrell abgestimmten Stellungnahme. Russland habe sich angesichts der
Teilmobilisierung, Scheinreferenden und Drohung mit dem Einsatz von
Massenvernichtungswaffen für den «Weg der Konfrontation» entschieden,

kritisierte Borrell. Damit bürde Moskau auch dem eigenen Volk
zusätzliche Kriegskosten auf.

Atomexperten verhandeln über Schutzzone für AKW Saporischschja

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) hat nach Angaben von
Direktor Rafael Grossi «echte Verhandlungen» mit Russland und der
Ukraine über eine Schutzzone für das umkämpfte Atomkraftwerk
Saporischschja aufgenommen. Grossi sagte in New York, er habe sich am
Rande der UN-Vollversammlung mit dem russischen Außenminister Sergej
Lawrow und mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba
getroffen. «Die Räder sind in Bewegung.»

Ein konkretes Ergebnis gebe es noch nicht, sagte Grossi. Aber er habe
den Eindruck, dass es auf allen Seiten die Überzeugung gebe, dass die
Einrichtung einer solchen Schutzzone unverzichtbar sei. Das
Kernkraftwerk Saporischschja steht seit Anfang März unter russischer
Kontrolle und wird immer wieder beschossen.

Das wird am Donnerstag wichtig

In New York tritt der UN-Sicherheitsrat zusammen, dazu werden sowohl
Lawrow wie Kuleba erwartet. Auch Bundesaußenministerin Annalena
Baerbock von den Grünen soll bei der Sitzung sprechen.