EU will nach Teilmobilmachung die Sanktionsschraube weiter anziehen

22.09.2022 16:52

Die EU will mit Härte auf die Teilmobilisierung in Russland
reagieren. Ob neue Sanktionen beschlossen werden können, hängt auch
von Ungarn ab. Kann Moskau überhaupt 300 000 Mann mobilisieren?

Kiew (dpa) - Die EU will mit weiteren Sanktionen auf die
Teilmobilmachung Russlands im Ukraine-Krieg reagieren. «Es ist klar,
dass Russland versucht, die Ukraine zu zerstören», sagte der
EU-Außenbeauftragte Josep Borrell nach einem Sondertreffen der
EU-Außenminister am Rande der UN-Generalversammlung in New York.
Zugleich schert Ungarn aus der EU-Sanktionsfront aus und fordert
deren Aufhebung bis Jahresende. Die von Moskau angeordnete
Teilmobilmachung von 300 000 Reservisten könnte nach Einschätzung
westlicher Militärexperten für Russland eher Probleme als Vorteile
bringen.

Selenskyj fordert vor Vereinten Nationen Bestrafung Russlands

«Es wurde ein Verbrechen gegen die Ukraine begangen, und wir fordern
ein Bestrafung», sagte Wolodymyr Selenskyj am Mittwoch (Ortszeit) in
einer Videobotschaft vor der UN-Vollversammlung in New York. Russland
müsse bestraft werden für das Morden, die Folter, die Erniedrigungen
und die desaströsen Turbulenzen, in die es die Ukraine gestürzt habe.

Dazu gehörten internationale Sanktionen. Moskau müsse aber auch in
internationalen Organisationen isoliert werden. Außerdem müsse ein
Sondertribunal eingerichtet werden, um Russland für Verbrechen in dem
Krieg zur Rechenschaft zu ziehen. Selenskyj forderte auch weitere
Visarestriktionen für russische Bürger. Sie sollten nicht zum
Einkaufen oder Urlaub in andere Länder reisen können. Die Ukraine
will Selenskyj zufolge auch einen internationalen
Entschädigungsmechanismus durchsetzen. «Russland sollte für diesen
Krieg mit seinem Vermögen bezahlen», sagte er.

EU strebt neue Sanktionen an

«Wir werden neue restriktive Maßnahmen sowohl auf persönlicher als
auch auf sektoraler Ebene ergreifen», sagte Borrell. Dies solle in
Abstimmung mit den internationalen Partnern geschehen. Die
Strafmaßnahmen würden weitere Auswirkungen auf die russische
Wirtschaft haben, etwa auf den Technologie-Sektor. Zudem sagte
Borrell, dass die Ukraine weitere Waffen erhalten solle.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen teilte CNN im
Anschluss an ein Interview mit dem US-Sender schriftlich mit, dass es
um Sanktionen gegen russische Einzelpersonen und Einrichtungen
innerhalb und außerhalb Russlands sowie um zusätzliche
Exportkontrollen für zivile Technologie gehe.

Ungarn will Aufhebung der Sanktionen

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban verlangt die Aufhebung
der EU-Sanktionen gegen Russland spätestens bis Ende des Jahres. Die
nach dem Angriff auf die Ukraine verhängten Strafmaßnahmen gegen
Moskau seien den Europäern «von den Brüsseler Bürokraten
aufgezwungen» worden, sagte der Rechtspopulist nach Angaben der
regierungsnahen Tageszeitung «Magyar Nemzet». Die Sanktionen
verursachten Wirtschaftsprobleme, die Energiekrise und die Inflation,
erklärte er demnach weiter. Orban pflegt ein gutes Verhältnis zum
Kremlchef Wladimir Putin. Die Sanktionsbeschlüsse der EU erfordern
Einstimmigkeit unter den Mitgliedsländern.

Abgeordnete sollen sich zum Kriegsdienst melden

Russlands Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin hat die Abgeordneten
der Staatsduma nach dem Befehl für eine Teilmobilmachung zur
Teilnahme an dem Krieg in der Ukraine aufgerufen. «Wer den
Anforderungen der Teilmobilmachung genügt, sollte mit seiner
Teilnahme bei der militärischen Spezialoperation helfen», teilte der
Duma-Chef am Donnerstag in seinem Nachrichtenkanal bei Telegram mit.
«Es gibt keinen Schutz für die Abgeordneten.» Russlands Präsident
Wladimir Putin hatte am Mittwoch die Teilmobilmachung angeordnet.
300 000 Reservisten mit Kampferfahrungen sollen eingezogen werden.
Der Parlamentschef reagierte damit auf die wohl in
Abgeordnetenkreisen nicht seltene Auffassung, für sie gelte der
Aufruf Putins zur Landesverteidigung nicht.

Zweifel an Russlands Fähigkeiten zur Teilmobilisierung

Westliche Militärexperten bezweifeln, dass Russland mit seiner
Teilmobilisierung das Kriegsgeschehen in der Ukraine rasch zu seinen
Gunsten wenden kann. «Russlands Teilmobilisierung wird der Ukraine
nicht die Möglichkeit nehmen, mehr besetztes Gebiet bis zum und im
Winter zu befreien», so das Institute for the Study of War. Der
Militärexperte Mick Ryan schrieb auf Twitter, die russischen Truppen
seien nach acht Monaten im Kampfeinsatz erschöpft. Das britische
Verteidigungsministerium meinte, Russland werde wahrscheinlich mit
logistischen und administrativen Herausforderungen zu kämpfen haben,
die 300 000 Soldaten auch nur zu mustern. In der Hoffnung, Kampfkraft
zu generieren, gehe Präsident Wladimir Putin ein beträchtliches
politisches Risiko ein.

Nach Protesten noch mehr als 1300 Menschen in Haft

Nach Protesten gegen die Teilmobilmachung in Russland hat die Polizei
am Donnerstagmorgen Bürgerrechtlern zufolge noch mehr als 1300
Menschen in Gewahrsam gehalten. Allein in der Hauptstadt Moskau waren
es etwa 530 Protestler, in Sankt Petersburg 480, wie das
Bürgerrechtsportal OVD-Info auflistete. Von staatlicher Seite gab es
keine Angaben zu den Protesten. Bei den ersten größeren Kundgebungen
der russischen Anti-Kriegs-Bewegung seit März waren am Mittwoch in
vielen Städten junge Leute auf die Straße gegangen, darunter viele
Frauen, die um das Leben ihrer Männer, Brüder und Söhne fürchten.

Auch Türkei kritisiert die Scheinreferenden

Auch die Türkei hat die von Russland und den russischen
Besatzungsbehörden angekündigten Scheinreferenden in den besetzten
Gebieten der Ukraine verurteilt. «Wir sind besorgt über Versuche, in
einigen Regionen der Ukraine einseitige Referenden durchzuführen»,
hieß es aus dem Außenministerium am Mittwochabend. Solche «illegitim

beschlossenen Tatsachen» würden von der internationalen Gemeinschaft
nicht anerkannt. «Im Gegenteil, sie werden die Bemühungen um eine
Wiederbelebung des diplomatischen Prozesses erschweren und die
Instabilität vertiefen.» Die Türkei stehe für die «territoriale
Unversehrtheit, Unabhängigkeit und Souveränität» der Ukraine.

Briten nach Gefangenenaustausch wieder in der Heimat

Fünf Briten sind nach Monaten in der Kriegsgefangenschaft
prorussischer Separatisten in der Ostukraine in die Heimat
zurückgekehrt. Die Männer seien am Donnerstag auf dem Flughafen
London-Heathrow gelandet, berichtete die BBC. Dort hätten sie dann
auch ihre Familien wiedergesehen. Sie freuten sich «nach dieser
schrecklichen Tortur auf die Normalität mit ihren Familien», sagte
Dominik Byrne von der Organisation Presidium Network, die die
Angehörigen unterstützt. In einem im Flugzeug aufgenommenen Video
sagte einer der Männer, der in einem Schauprozess von den
Separatisten wegen Söldnertum zum Tode verurteilt worden war: «Wir
sind noch einmal davongekommen.»