Vom «Brotfisch» zum Exoten: Erneut strenge Ostsee-Fanglimits erwartet Von Christopher Hirsch, dpa

14.10.2022 06:00

Ehemals große Fischbestände in der Ostsee stecken in der Krise und
mit ihnen die Fischerei. Kommende Woche werden wieder strenge
EU-Fangbeschränkungen erwartet. Bei den Beständen sieht ein Experte
auch Hoffnung.

Boltenhagen (dpa) - In deutschen Supermärkten finden sich zwar
Garnelen aus vietnamesischer Aquakultur, aber weder Hering noch
Dorsch von der deutschen Ostseeküste. Die einstigen «Brotfische», die

wesentlich den Lebensunterhalt hiesiger Fischer sicherten, sind
längst zu Exoten im Handel geworden. Daran dürften auch die
Entscheidungen auf EU-Ebene über Höchstfangmengen kommende Woche
nichts ändern - jedenfalls vorläufig nicht. Längerfristig könnte ab
er
etwa der Hering der westlichen Ostsee sein Exotendasein überwinden.

Bis dahin kriegen ihn Fisch-Fans, wenn überhaupt, in Küstennähe
beziehungsweise direkt an der Kaikante wie bei Hendrik Kern in
Boltenhagen bei Wismar. Der 34-Jährige fischt, seitdem er 16 ist - in
fünfter Generation. Er gehört zu einer aussterbenden Zunft. Dennoch
sagt er, ihm gehe es gut. «Ich kann mich nicht beschweren, weil ich
nur Eigenvermarktung mache.»

Was er mit seinem kleinen Stellnetzkutter fängt, verkauft er direkt
an den Endkunden. Kern fängt unter anderem Plattfische, denen es
vergleichsweise gut geht, darunter Scholle oder unquotierte Arten wie
Flunder, Kliesche oder Steinbutt. Hinzu kommen etwa Hornhecht und
Seehase. Beim Hering ist auch er von drastischen Fangbeschränkungen
betroffen. Er dürfe in diesem Jahr noch 100 Kilogramm Hering fangen.
Vor zehn Jahren sei es in etwa 100 Mal so viel gewesen.

Seit diesem Jahr darf in der westlichen Ostsee Dorsch gar nicht mehr
gezielt gefangen werden und Hering nur noch mit Kuttern unter zwölf
Metern Länge und sogenanntem «passivem Fanggerät», also etwa
Stellnetzen wie Kern sie nutzt. Nach einem Entwurf der EU-Kommission
für kommendes Jahr soll sich an den Beschränkungen für Hering und
Dorsch der westlichen Ostsee nichts ändern. Den Beständen haben
Überfischung, Überdüngung und die Klimaerwärmung zugesetzt.

Christopher Zimmermann ist Leiter des Thünen-Instituts für
Ostseefischerei in Rostock und berät im Rahmen des Internationalen
Rates für Meeresforschung (ICES) auch die EU-Kommission. Er erwartet,
dass beim Hering die Ausnahmen für kleinere Stellnetzkutter erhalten
bleiben. Für die Scholle schlägt die Kommission eine geringere
Steigerung der Fangmenge vor als vom ICES empfohlen, da es in der
Schollenfischerei zum Beifang von Dorsch komme. Hier sollen aber in
Zukunft spezielle Netze Abhilfe schaffen.

Laut Zimmermann erschwert der Ukraine-Krieg die Festlegung der
Fangmengen. Schon in der Vergangenheit habe es nur sporadische
Verhandlungen mit Russland über die gemeinsame Festsetzung von Quoten
gegeben. «Das ist jetzt komplett zum Erliegen gekommen. Also es gibt
letztlich keine abgestimmte Höchstfangmenge.» Er erwartet, dass es
insgesamt gemessen an den Beständen auf etwas zu hohe Fangmengen
hinauslaufen werde. Im Barentsmeer wiege das Problem noch schwerer,
weil Russland hier viel größere Fanganteile habe.

Um die Fischerei in der Nordesse steht es nach Aussage Zimmermanns
besser als in der Ostsee. Es gebe Licht und Schatten. «Aber insgesamt
kann man reichlich Fisch aus der Nordsee holen, nachhaltig
bewirtschaftet. Und die Situation ist viel besser als in der
westlichen Ostsee.» Der Nordsee-Hering etwa habe zwar
Nachwuchsprobleme. Er sei aber weiter MSC-zertifiziert. «Weil es
einen Plan gibt, wie man den wieder in den grünen Bereich bringt.»

Auf das MSC-Siegel verweisen etwa auch die großen Handelsketten, wenn
es um nachhaltigen Fischkonsum geht. Auch Karoline Schacht von der
Umweltorganisation WWF nennt es als Orientierung. Es garantiere
zumindest einen Mindeststandard. Bei Fischen aus Aquakultur gebe es
als Gegenstück das ASC-Siegel. Zudem bietet der WWF etwa auf seiner
Website einen Einkaufsguide. Hier werden auch Unterschiede je Art in
Abhängigkeit von Fangmethode und Herkunft gemacht.

Selbst wenn Fisch in Strandnähe angeboten wird, ist er längst nicht
immer regionalen Ursprungs. «Natürlich gibt es an der Ostsee
Krabbenbrötchen», nennt Schacht ein Beispiel. Entsprechende Krabben
gebe es dort aber nicht. Und bei regionalem Ursprung seien bestimmte
Arten wie etwa der Aal Tabu, um ein Aussterben der Art zu verhindern.

Vorteile gegenüber Fleisch vom Land etwa bei der Klimabilanz würden
getrübt, wenn der Fisch aus tausenden Kilometern Entfernung stamme -
und die EU sei weltweit der größte Fischimporteur. Dennoch kann man
laut Zimmermann grob sagen: Für jedes Kilogramm Rind, auf das man
verzichtet, kann man zum Beispiel acht Kilogramm Zuchtlachs essen -
bei gleichen Umweltauswirkungen. Deshalb brauche man die Fischerei.

Der Experte hat zumindest die Hoffnung, dass irgendwann der Hering
der westlichen Ostsee auch wieder eine größere Rolle auf dem Markt
spielen könnte. Es gebe, «ganz erste positive Anzeichen, aber da
sollte man möglichst nicht sofort wieder darauf rumtrampeln, sondern
jetzt sehr vorsichtig agieren». Für das laufende Jahr seien erstmals
auch die Fangmengen in Bereichen niedrig genug gewesen, die jenseits
der westlichen Ostsee lägen, aber dennoch denselben Bestand beträfen.

Bis sich der Bestand ausreichend erhole, werde es aber nach
derzeitigen Prognosen fünf bis sieben Jahre dauern. Und auch dann
werde der Ertrag nicht so groß sein wie vor 30 Jahren, sagt
Zimmermann. «An der Differenz ist der Klimawandel schuld, den können
wir nicht ändern.» Die Erwärmung bestimmter Teile der Ostsee führe
zu
weniger Nachwuchs. Beim Dorsch der westlichen Ostsee kenne man die
Zusammenhänge noch nicht. «Jetzt hilft leider nur abwarten, und es
gibt Beispiele, da hat dieses Abwarten 25 Jahre gedauert.»

Wie es bis dahin der schrumpfenden deutschen Ostseeküstenfischerei
geht, steht in den Sternen. Kern, der auch Binnenfischer ist, will
schon ab kommendem Jahr expandieren und einen zweiten Kutter
einsetzen. Von den Menschen wünscht er sich bisweilen etwas mehr
Verständnis für sein Handwerk. Teilweise stünden sie vor seinem
Kutter und fragten nach Currywurst und Pommes.