UN-Klimakonferenz vor dem Scheitern? EU will 1,5-Grad-Ziel retten Von Larissa Schwedes, Johannes Sadek, Martina Herzog und Torsten Holtz, dpa

19.11.2022 13:03

Frustrierte Minister, versteinerte Mienen, flammende Appelle: Nach
zwei Wochen sind viele Streitpunkte immer noch ungelöst auf der
UN-Klimakonferenz. Die Kritik an den ägyptischen Gastgebern wächst.
Fährt das Treffen vor die Wand?

Scharm el Scheich (dpa) - Die UN-Klimakonferenz in Ägypten steckt in
einer Sackgasse und droht zu scheitern. EU-Kommissionsvize Frans
Timmermans und Außenministerin Annalena Baerbock warnten am Samstag,
dass sie notfalls auch ein Platzen des zweiwöchigen Treffens in
Scharm el Scheich in Kauf nehmen. «Wir werden keinen Vorschlägen
zustimmen, die das 1,5-Grad-Ziel zurückdrehen», stellte Baerbock nach
ergebnislosen nächtlichen Verhandlungen klar. Und Timmermans sagte,
gewisse rote Linien werde der Staatenverbund nicht überschreiten. «Es
ist besser, kein Ergebnis zu haben als ein schlechtes.»

Die Weltklimakonferenz, zu der etwa 34 000 Teilnehmer angereist sind,
war am Freitagabend in die Verlängerung gegangen. COP-Präsident Samih
Schukri sagte am Morgen danach: «Es gibt ein gleiches Maß an
Unzufriedenheit von allen Seiten.» Die Vertreter der rund 200 Staaten
wollten nun weiter über eine Abschlusserklärung beraten. Der Frage
nach einem möglichen Scheitern wich er aus. «Jede Partei hat das
volle Recht, sich einem Konsens anzuschließen oder nicht
anzuschließen.»

In Verhandlungskreisen brach in der Nacht tiefe Beunruhigung aus,
nachdem Delegationen für nur wenige Minuten von der ägyptischen
Präsidentschaft vorgelegte Textentwürfe zum Stand der Verhandlungen
zu sehen bekamen. «Das ist extrem ungewöhnlich», sagte ein Verhandler

über den Endspurt. Die Delegationen hätten den Text nicht mitnehmen,
sondern nur 20 Minuten anschauen und dann kurz kommentieren dürfen.

Insbesondere bei den Passagen, in denen es um die Eindämmung der
Erderwärmung geht, sei der Text «das Gegenteil von dem, was passieren
muss», berichtete ein besorgter Delegierter. Baerbock verwies auf
kursierende Vorschläge, wonach kein Staat in den nächsten zehn Jahren
seine Klimaschutz-Ambitionen steigern müsste. «Dann würde das 1,5
Grad Ziel hier auf dieser Konferenz sterben. Und da macht die
Europäische Union nicht mit», betonte sie.

2015 hatte die Weltgemeinschaft in Paris vereinbart, die Erwärmung
möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen, im Vergleich zur
vorindustriellen Zeit. Die Welt hat sich nun schon um gut 1,1 Grad
erwärmt, Deutschland noch stärker. Ein Überschreiten der
1,5-Grad-Marke erhöht nach Warnungen der Wissenschaft deutlich das
Risiko, sogenannte Kippelemente im Klimasystem und damit
unkontrollierbare Kettenreaktionen auszulösen.

Baerbock sagte, die Erderhitzung und ihre Folgen wie häufigere
Dürren, Stürme und Überschwemmungen brächten schon jetzt viele der

verletzlichsten Staaten an den Rand des Kollaps - und diesen müsse
geholfen werden. Man sei nicht nur in Ägypten «um Papier zu
produzieren». Die Konferenz müsse einen großen Schritt vorankommen.

Timmermans äußerte sich ebenfalls sehr besorgt über die
Verhandlungen. Man werde bis zum Ende um eine Einigung ringen, sei
aber notfalls auch bereit, ohne eine Erklärung abzureisen. «Die
Nachricht an unsere Partner ist klar: Wir können nicht akzeptieren,
dass das 1,5-Grad Ziel hier und heute stirbt.»

Angesichts der Verzögerungen und einem Verhandlungsprozess, den
Teilnehmer als chaotisch beschreiben, wuchs auch die Kritik an den
ägyptischen Gastgebern. COP-Präsident Schukri gestand den Unmut der
Teilnehmer am Samstag zwar ein, spielte den Ball aber zurück und
sagte, die Verantwortung für eine Einigung liege bei den Ländern.
Auch sein Sonderbeauftragter für die COP27, Botschafter Wael
Abulmagd, wies Kritik zum schleppenden und teils umständlichen
Verhandlungsprozess zurück und spielte Sorgen herunter. «Ich glaube,
wir müssen uns keine großen Sorgen machen», sagte Abulmagd.

Ein wichtiger Streitpunkt ist auch, ob ein extra Finanztopf für
Klimaschäden in besonders gefährdeten Staaten eingerichtet werden und
wer in diesen Fonds einzahlen soll. Die EU ist hier offen für eine
Einigung, allerdings nur unter der Bedingung, dass die Gelder nur
ärmeren, sehr bedrohten Ländern zugutekommen. Zudem soll alles an
ehrgeizigere Klimaschutzmaßnahmen gebunden sein. Ein Durchbruch bei
der Frage, im UN-Jargon «loss and damage», wäre Experten zufolge ein

Hoffnungsschimmer am Ende des Treffens.

Umstritten ist dabei unter anderem die Rolle Chinas. Das Land will im
internationalen Klimaschutz weiter als Entwicklungsland behandelt
werden, so wie 1992 im Kyoto-Protokoll festgelegt. Westliche Staaten
aber wollen China wegen seiner Wirtschaftskraft und der Rolle als
größter Verursacher von Treibhausgasen nicht länger als Empfängerla
nd
für Gelder einstufen.

Der geschäftsführende Vorstand von Greenpeace Deutschland, Martin
Kaiser, sagte zu dem Hickhack: «Am letzten Tag der COP prallen
Klimakrise und Geopolitik mit voller Wucht aufeinander. Anstatt eine
kurz- und langfristige Lösung für die Übernahme der Schäden und
Verluste im Interesse der am meisten getroffenen Menschen durch alle
reichen Superemittenten zu finden und die Welt weiter auf einen
1,5-Grad-Pfad zu bringen, werden hoffnungsgebende Ergebnisse zwischen
den Staatenblöcken der UN zerrieben.»

Zur Rolle der ägyptischen Konferenzleitung sagte Kaiser: «Es ist
inakzeptabel und noch nie dagewesen, dass eine COP-Präsidentschaft
völlig intransparent operiert und Zivilgesellschaft und Staaten
Tische und Stühle wegräumt, bevor die Konferenz zu Ende ist.»

In einem am Freitagmorgen von der Konferenzleitung veröffentlichten
ersten Entwurf für die Abschlusserklärung wird zwar ein schrittweiser
Kohleausstieg gefordert. Die Forderung etlicher Staaten, darin auch
den Abschied von Öl und Gas festzuschreiben, wurde aber nicht
aufgegriffen - was für Kritik von Klimaschützern sorgt und auch
vielen Staaten nicht gefällt.